Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
er ist jetzt bei deiner Mama. Sie passt auf ihn auf und ist nicht mehr allein.«
Charmaine liebkoste das verzweifelte Mädchen und strich ihr sanft das Haar zurück, bis sie wieder ruhiger atmete. Als sie sicher war, dass Jeannette eingeschlafen war, zog sie die Decke über das Mädchen und küsste sie auf die Wange. Dann erhob sie sich und trat hinaus auf den Balkon. Der Regen hatte aufgehört, und sie spürte, wie die Luft in ihrem Nacken spielte und den Schmerz in ihrer Brust ein wenig erleichterte. Aber dieser erholsame Moment war nicht von Dauer. Mutlos ließ Charmaine den Kopf sinken und musste heftig schlucken, um ihre Tränen zu unterdrücken.
Noch vor einer Woche hatten sie wie im Paradies gelebt. Vor einer Woche war sie mit den Kindern und John in den Wald gegangen, und zusammen hatten sie einen wunderbaren Tag an dem versteckten See verbracht. Und dann war die zauberhafte Woche jäh zu Ende gegangen, als am Abend Yvettes Schritte und lautes Geschrei sie aus dem ersten Schlaf gerissen hatten. Heute konnte Charmaine über diese Aufregung nur lachen. Ein solches Theater … und alles wegen eines Kartenspiels!
Aber all das war jetzt vorbei. Am vergangenen Tag hatten sie Pierre zu Grabe getragen, und zwar unter einer gleißend hellen Sonne, die alle Lügen und Wahrheiten, allen Streit und alle Enthüllungen des frühen Morgens überstrahlte. Johns Augen waren so trocken geblieben wie dieser herrliche Tag voll verlogener Versprechungen, und selbst das war eine Lüge.
Nichts als Lügen …
Frederic hatte sich mit einer Hand auf Jeannettes zarte Schultern gestützt und mit der anderen auf seinen schwarzen Stock, als er den kleinen Sarg auf dem Weg von der Kapelle zum Friedhof begleitet hatte, wo Pierre neben Colettes Grab seine letzte Ruhe finden sollte.
Yvette hatte versucht, John zu trösten, doch der war seinen Weg allein gegangen. Nach einer Weile hatte sie sich stattdessen zu Charmaine gesellt und den ganzen Weg über mit gesenktem Kopf schniefend gegen die Tränen gekämpft.
Alle Bewohner des Hauses waren dem Sarg gefolgt, nicht zuletzt auch Rose und George. Am Grab hatte George seinem Freund den Arm um die Schultern gelegt und reglos bis zum Ende bei ihm ausgeharrt, hatte zugesehen, wie die Erde auf den kleinen Sarg gehäuft wurde und wie Jeannette nach vorn getreten war und Pierres ausgestopftes Lämmchen auf den Erdhügel gelegt hatte.
Wie versteinert hatten Vater und Sohn einander kein einziges Mal angesehen. Doch kaum dass die Gesellschaft zu Hause angekommen war, waren schwarze Wolken aufgezogen, und der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet und all die Tränen geweint, die Vater und Sohn nicht hatten weinen können. Der restliche Tag war in stiller Trauer vergangen.
Charmaine wischte sich die Tränen ab. Eigentlich hätte sie in ihrem eigenen Zimmer schlafen müssen, doch sie hatte noch nicht den Mut gefunden, in dem Bett zu schlafen, in dem Pierre gestorben war. Früher oder später musste sie es tun, aber heute noch nicht.
Sie drehte sich um, als sie ein Geräusch am Ende der Veranda vernahm. Es war Paul, der langsam zu ihr herüberkam. Seit sie ihn schlafend im Sessel vorgefunden hatte, waren sie nicht mehr allein gewesen. Und das schien bereits Ewigkeiten zurückzuliegen.
Sie bemerkte seinen kummervollen Blick und seine tiefe Traurigkeit.
»Es ist schon spät«, flüsterte er. »Konnten Sie nicht schlafen?«
»Ich bin immer wieder aufgewacht. Ich hoffe, dass ich irgendwann so müde bin, dass ich das Denken vergesse …«
Die Worte erstarben auf ihren Lippen, als Paul sie wortlos in seine Arme zog. Sie hielt sich an ihm fest, vergrub den Kopf an seiner Brust und musste sich große Mühe geben, um nicht zu weinen. Sanft strich er über ihr Haar und über ihren Rücken. »Es ist gut, Charmaine, weinen Sie doch endlich«, sagte er leise. »Bis heute waren Sie stark für uns alle, aber jetzt will ich endlich für Sie da sein.«
Da war es mit ihrer Beherrschung vorbei.
»Genau das wollte ich schon gestern tun«, sagte er nach einer ganzen Weile.
»Ich weiß.« Das klang zwar kläglich, aber sie presste ihr Gesicht noch immer an sein Hemd und konnte ihre Tränen nicht aufhalten.
»Wir müssen diesen Schmerz überwinden, dann werden auch wieder glücklichere Tage kommen.«
»Ich bete zu Gott, dass Sie recht behalten, Paul. Ich weiß nicht, wie ich ohne Pierre leben soll. Ich vermisse ihn schon jetzt.«
»Ich verspreche Ihnen, dass Sie das lernen werden, Charmaine. Das verspreche ich
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