Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Ihnen.«
Sie hielten einander noch eine ganze Weile fest. Als der größte Schmerz vorüber war, trat Charmaine einen Schritt zurück. Paul ließ sich gegen die Balustrade sinken und zog sie neben sich. Dabei legte er einen Arm um ihre Schultern.
»Vielleicht können wir ja morgen etwas mit den Mädchen unternehmen«, schlug er vor. »Vielleicht einen Ausflug in die Stadt?«
Charmaine schmiegte ihren Kopf an seine Brust und gab ihm schweigend zu verstehen, wie sehr ihr seine Sorge um die Kinder gefiel.
Als es sehr viel später wieder zu regnen begann, kehrte Paul in seine Räume zurück. Zart fuhr er mit den Lippen über die ihren und wünschte ihr leise eine gute Nacht.
Charmaine sah ihm nach. Dann kehrte sie in ihr eigenes Zimmer zurück, zog die Decke beiseite und schlüpfte zwischen die Laken. Lange konnte sie nicht einschlafen, doch als sie ihr Kissen in die Arme nahm, spürte sie, wie sicher Pauls Arme sie umfasst hielten … und ihre Lider wurden schwer.
Samstag, 14. Oktober 1837
Wenn du immer nur das Schlimmste glauben willst, dann tue es, Frederic … Frederic schrak hoch. Er hatte im Traum mit Colette gestritten, und sie hatte ihn wie in den ersten Wochen ihrer Ehe mit blitzenden Augen angestarrt. Aber diese Worte hatte sie erst vor nicht allzu langer Zeit zu ihm gesagt … ungefähr einen Monat vor ihrem Tod.
Er schloss die Augen und wollte den Traum wiederfinden, aber als die Minuten vergingen und nichts geschah, stand er auf.
Obwohl die französischen Türen seines Zimmers nach Norden zeigten, spiegelte sich das Licht der Morgendämmerung in den Tropfen an den Lamellen der Fensterläden und warf bunte Reflexe in den düsteren Raum. Frederic sank in seinen Lehnsessel und starrte auf die hellen Punkte, bis er alles um sich herum nur noch als Hell und Dunkel wahrnahm.
Er hatte diesen Raum satt und erst recht sein Dasein in diesem selbstgewählten Gefängnis. Er dachte an John und spürte, wie ihn ein Gefühl beschlich, das er erst langsam entdeckte. Seine Augen wurden feucht, als er begriff, dass er diesen Sohn liebte, sogar sehr liebte. Ja, mehr noch, dass er ihn bewunderte. Kalt und ablehnend zu sein war sehr viel leichter als mild und mitfühlend. Durch Eifersucht und Schmerz hatte er sich von dem Einzigen fernhalten lassen, das ihn hätte heilen können: von seinem eigen Fleisch und Blut. Im Gegensatz zu seinem Vater hatte John die Last nicht auf andere abgeladen. Trotz all seiner Wut und seiner Fehler konnte John mit sich und mit seinen Entscheidungen leben.
Frederic senkte den Kopf. Wann war er eigentlich ein solch bemitleidenswerter Idiot geworden, dem niemals verziehen werden würde, wie John gesagt hatte? Warum sollte er ihm auch verzeihen?
Pierre war tot – diese Wahrheit schnitt ihm wie ein Messer ins Fleisch. Pierre ist tot, weil du mich hasst . Solch weitreichende Folgen seiner Verbitterung hatte Frederic nicht bedacht und auch nie erwartet, dass sie sich eines Tages auf ihn selbst auswirken würden. War er schon so verkommen, dass er die Vernichtung seiner Familie in Kauf nahm? Und schlimmer noch, den Tod eines unschuldigen Jungen? Er musste sich endlich seiner Vergangenheit stellen. Er hatte Elizabeth und John und auch Colette schmählich im Stich gelassen.
Colette … Er hatte sie vom ersten Augenblick an falsch eingeschätzt. Als sie im Alter von siebzehn Jahren auf die Insel gekommen war, hatte ihm ihre zauberhafte Schönheit den Atem geraubt. Aber noch beunruhigender war ihr Benehmen – etwas in ihrer Art zu sprechen und sich zu bewegen, das ihn stark an Elizabeth erinnerte, hatte ihn täglich mehr fasziniert, bis er sich kaum noch beherrschen konnte.
Aber Colettes Absichten waren genauso verwirrend. John war hingerissen, doch Frederic blieb argwöhnisch. In erster Linie wegen der Mutter. Er hatte die Frau schnell durchschaut und die Sorge um zukünftige Armut in ihrem Blick gelesen. Und dann Paul. Man hatte ihn einfach ausgebootet, als Colette erfuhr, dass er kein Vermögen erben würde. Und natürlich das Mädchen selbst, das im dekadenten Frankreich geboren und aufgewachsen war. Ihre ungewohnte Freizügigkeit war ihm sofort aufgefallen, und er war überzeugt, dass sie seinem Sohn durchaus das eine oder andere beibringen konnte. Was die frechen Bemerkungen zu bestätigen schienen, die er hin und wieder im Vorbeigehen aufschnappte. Das Mädchen war sogar so weit gegangen, auch mit ihm zu flirten, was ihn ernsthaft an ihrer Unschuld zweifeln ließ. Womöglich war die
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