Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
Arbeit versinken.
Dann dachte er wieder an Charmaine. Er sehnte sich nach einer Begegnung unter vier Augen, um zu vollenden, was er viel zu lange zurückgestellt hatte. Sie begehrte ihn so sehr, wie er sie begehrte. Doch sie hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und ließ ihn zappeln. Ob sie schon schlief? Plötzlich verspürte er den Wunsch, das herauszufinden …
Die Kerze auf dem Nachttisch war fast heruntergebrannt, aber seine Augen gewöhnten sich rasch an das Dunkel. Er trat ans Bett und sah voll Sehnsucht auf sie hinunter … wie schön sie war! Dunkle Wimpern auf milchweißen Wangen, lockende, leicht geöffnete Lippen, eine Hand, die entspannt neben dem Kissen lag, und üppige Brüste unter dem dünnen Nachthemd. Wie sehr er sich danach sehnte, sie zu umarmen! Was würde sie tun, wenn er sie mit einem Kuss weckte? Sein Puls schlug schneller, als er seine Phantasie spielen ließ. Vielleicht würde sie sich wehren, was er erregend fände. Doch nein, das erste Mal sollte wie ein Erwachen sein, ein wunderbares Gefühl, nach dem sie immer wieder verlangte, vielleicht sogar flehte …
Mit diesem Gedanken zog er sich lautlos zurück. In dieser Nacht würde er keinen Schlaf mehr finden – so viel war sicher !
Charmaine riss die Augen auf und griff hilfesuchend nach ihrer Decke. Wie lange hatte sie die Luft angehalten? Du hast sie gar nicht angehalten, Dummerchen! Du hast die Entspannung nur vorgetäuscht. Dabei hat dein Herzschlag so laut in deinen Ohren gedröhnt … Sicher hat er das gehört! Wie hätte er es überhören können? Sie hatte auf einen Kuss gewartet, der niemals kam. Hatte gebetet, dass er es nicht tat – und genau das Gegenteil ersehnt. Und dann war er fort … Fort! Stöhnend drehte sie sich um und versuchte, ganz ruhig zu atmen, zu schlafen.
4
Donnerstag, 28. September 1837
»Willst du mich heiraten, Charmaine?«
Sanft klangen die Worte in ihrem Ohr und streichelten ihren Nacken, sodass sie im ersten Moment zu träumen meinte. Aber sie fühlte, wie er sie an sich zog, fühlte seinen Mund auf ihren Lippen und die verzweifelte Sehnsucht, die sowohl zu ihrem Körper als auch zu ihrem Herzen sprach …
Erschrocken fuhr sie hoch, und es dauerte fast eine ganze Minute, bis sich ihr heftig klopfendes Herz beruhigte. Als die Euphorie des Traumes der Wirklichkeit wich, stöhnte sie. Paul störte ihren Schlummer nun schon in der vierten Nacht, seit er sich in ihr Zimmer geschlichen und sie nur wortlos betrachtet hatte. Der immer wiederkehrende Traum war so lebendig, dass er sie noch Stunden später verfolgte.
Ein Traum, nur ein Traum! Wagte sie etwa, auf mehr zu hoffen – vielleicht auf die geflüsterten Worte, die sie bisher nur im Schlaf gehört hatte? Oder war die Unsicherheit ihr Schicksal – an einem Tag Hoffnungen zu hegen und am nächsten am Boden zerstört zu sein? Antworten gab es nicht, nur Wünsche und Sehnsüchte, die um das Wörtchen vielleicht kreisten. Statt noch lange zu grübeln, stieg Charmaine aus dem Bett und widmete sich ihren täglichen Pflichten.
Hufgeklapper lockte sie hinaus auf die Veranda, und sie sah gerade noch, wie Paul auf seinen Schimmel stieg und durch das Tor galoppierte. Seit seiner Rückkehr war er ständig beschäftigt, sodass sie ihn kaum sah, als ob er sich noch auf Espoir befände. Ob er ihr absichtlich aus dem Weg ging? Nein, das war Unsinn. Sie wusste ja, wie viel er von sich verlangte. Es war gerade sechs Uhr morgens – und er war schon fort, vermutlich für den ganzen Tag. Wieder hieß es warten. Aber worauf? Auf den nächsten Besuch in ihrem Schlafzimmer? Da blieb er besser, wo er war.
Vergiss ihn , dachte sie und wandte sich ab, um sich anzuziehen. Heute war der Geburtstag der Zwillinge. Das war genau die richtige Ablenkung . Sie hatte ihnen versprochen, dass sie den Tag ganz nach eigenen Wünschen gestalten durften. Da würde schon keine Langeweile aufkommen.
Die Kinder hatten nichts von ihrer nächtelangen Arbeit mit Nadel und Faden mitbekommen und wussten auch nicht, dass sie die hübsch verpackten Geschenke erst vor ein paar Stunden auf dem Tisch im Speisezimmer aufgebaut hatte. Jeannette war bestimmt entzückt, wenn sie die Kleidchen für ihre Porzellanpuppe auspackte. Doch mit Yvette war die Sache schon schwieriger. Charmaine konnte nur hoffen, dass sie sich über die Reithose freute, die sie ihr genäht hatte. Agatha würde auf jeden Fall die Nase rümpfen, aber das war Charmaine egal. Außerdem war daran ohnehin nichts mehr zu
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