Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
nahm sich die Ermahnung zu Herzen. »Gib nicht so schnell auf, Jeannette. Es gibt ebenso viele Geschenke für dich wie für Yvette.«
»Aber wo sind sie denn? Ich habe doch schon überall gesucht!«
»Überall?«
»Ja, überall im Haus …« In diesem Augenblick dämmerte es ihr. »Sie sind gar nicht im Haus versteckt, oder?«
»Es gibt nur einen Tipp, habe ich gesagt.«
Aber das genügte. Blitzschnell stürmte Jeannette die Stufen hinunter und aus der Haustür. John musste den ganzen Weg bis zum Kinderzimmer schmunzeln.
Er hat ebenso viel Spaß wie die Mädchen , dachte Charmaine.
»Setzen Sie ihn aufs Bett«, rief sie über die Schulter und holte frische Sachen und ein Handtuch aus dem Schrank.
John lud seine nasse Last ab. Dann breitete er die Arme aus und betrachtete sein nasses Hemd und seine durchweichte Jacke. Charmaine hielt mitten im Schritt inne, warf alles bis auf das Handtuch auf einen Stuhl und lief auf ihn zu. »O nein! Ihre Jacke ist ruiniert! Und erst Ihr Hemd!« Ohne lange zu überlegen, rieb sie das Hemd mit dem Handtuch trocken, doch als ihr bewusst wurde, was sie tat, ließ sie erschrocken die Hände sinken. Sie wich einen Schritt zurück und sah betreten zu ihm auf. »Es … es tut mir leid!«
Er rührte sich nicht, und seine Arme hielten noch unverändert den Raum umfasst, wo sie soeben noch gestanden hatte. Mit schiefem Lächeln genoss er ihre Verlegenheit.
»Ich … ich muss mich um Pierre kümmern.«
»O ja«, sagte er und lachte. »Und ich muss fort, bevor ich weiteres Unheil anrichte, das sich nicht nur mit einem trockenen Tuch reparieren lässt.«
Nach dem Umziehen gingen Charmaine und Pierre hinaus auf den Balkon, um nach Jeannette Ausschau zu halten. Unten öffnete sich die Haustür, und gleich darauf gerieten John und George in ihr Blickfeld. John hatte ein frisches Hemd angezogen, dazu eine rehbraune Hose, Reitstiefel und Kappe. Offenbar wollte er mit George ausreiten.
Charmaine konnte zwar kein Wort der Unterhaltung zwischen den beiden Männern verstehen, aber schon ihre Haltung bezeugte, welch tiefe Freundschaft sie verband. Auch nach sechs Wochen wunderte sich Charmaine noch immer. Ein leises Lachen, ein Kopfschütteln, eine Hand, die eine Bemerkung unterstrich, und der Arm, der sich um die Schulter des Freundes legte. Die meisten Brüder wären auf eine solche Freundschaft eifersüchtig.
Ein entzücktes Quietschen ertönte, als die Zwillinge aus dem Stall auf ihren Bruder zustürmten. Yvette erreichte ihn als Erste und umschlang ihn mit aller Kraft. »Oh, sie sind wunderschön, Johnny! Wo hast du sie denn her?«
Seine Antwort war zu leise, als dass Charmaine sie verstehen konnte. Aufgeregt hüpften die Mädchen um ihren Bruder herum und zerrten ihn an den Armen zum Stall hinüber. »Wir können ja gleich loslegen!« Als John etwas sagte, blieben die Mädchen stehen. »Ja, gern!« Jeannette lachte.
»Komm, wir holen sie!«, rief Yvette. Als sie sich umdrehte und zum Haus hinübersah, entdeckte sie Charmaine auf der Veranda. »Da ist sie ja!«
Die Gruppe kam ein Stück weit über die Wiese auf sie zu. »Mademoiselle Charmaine!« Jeannette war ganz aus dem Häuschen. »Warten Sie nur, bis Sie sehen, was John uns geschenkt hat!«
»Bleiben Sie auf der Veranda!«, rief Yvette. »Wir bringen sie nach draußen!«
Als Yvette mit George im Stall verschwand, ahnte Charmaine, was kommen würde. »Warten Sie nur, was Sie gleich sehen werden«, rief Jeannette glückstrahlend, als sie mit John den anderen folgte. »Es sind die schönsten Geschenke der Welt! Schöner als alles andere und auch schöner als jeder Schatz!«
Im selben Moment führte George zwei Ponys aus dem Stall. Zwei wunderschöne Geschöpfe, die aufs Hübscheste herausgeputzt und geschmückt waren und schon rein äußerlich genau zu den Mädchen passten. Das eine war kohlrabenschwarz, kaute widerspenstig an seinem Halfter und schüttelte den Kopf. Das andere dagegen war so weiß wie Puder und äußerst sanftmütig, aber genauso schön wie das erste.
»Sie sind wirklich hübsch!«, rief Charmaine und ahnte schon, was als Nächstes kam.
»Johnny will mit uns reiten, wenn Sie es erlauben.«
»Wenn ihr schon Ponys habt, dann müsst ihr auch reiten.«
»Kommen Sie auch mit?«, rief Jeannette.
»Ich?« Charmaine war überrascht und gleichzeitig verlegen. »Macht das lieber ohne mich. Ich bleibe mit Pierre zu Hause und sorge mich um euer Wohlergehen.«
»O bitte, Mademoiselle, kommen Sie doch mit!«, bettelten
Weitere Kostenlose Bücher