Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
überstanden hatte.
Am morgigen Tag vor neunundzwanzig Jahren hatte er weniger Glück gehabt. Die Erinnerung ließ ihn heute noch zittern. Die bedrückenden Bilder der düsteren Nacht, kurz nach Mitternacht, verfolgten ihn noch immer, als ob es gestern gewesen wäre. Beim Gedanken an den Verlust bei dieser Geburt zog sich seine Brust schmerzhaft zusammen.
»John«, hatte Elizabeth gestöhnt, bevor die nächste schmerzhafte Wehe sie erfasste. »Wenn es ein Junge ist, dann nenne ihn John.« Das waren ihre letzten Worte gewesen.
Colette hatte ähnlich schwer kämpfen müssen wie Elizabeth. Obwohl er stets tapfer war, hatte ihn damals die Angst davor, dass er durch die Geburt der Zwillinge auch seine zweite Frau verlieren könnte, beinahe umgebracht.
Aber Gott war ihm gnädig gewesen und hatte Colette verschont. Und warum? Hatte Gott seine Gebete in den langen Stunden vor Mitternacht erhört? War Colettes Rettung nur dem Schwur zu danken, den er damals vor Gott und sich selbst abgelegt hatte? Ihm war klar, dass ihn dieser Schwur genau bis hierher geführt hatte, heute noch wirkte und auch noch in Zukunft das Leben seiner Kinder aufs Schrecklichste bestimmen würde. Er sank auf Yvettes Bett und rieb seine schmerzende Stirn. Wollte er wirklich zulassen, dass die Vergangenheit die Zukunft beherrschte? Guter Gott , dachte er, was soll ich nur tun?
»Gefällt dir unser Ausflug, Pierre?«, unterbrach Johns Stimme den gedämpften Hufschlag auf der staubigen Straße.
»Ja, sehr.« Der Kleine kicherte. »Ich mag das große Pferd!« Er verdrehte sich den Hals, um zu seinem Bruder emporzusehen. »Du stehst auf dem Kopf!«
»Aber nein, ich doch nicht. Du stehst auf dem Kopf!«
Pierre sah an sich hinunter. »Nein, ich doch nicht.« Dann merkte er, dass Charmaine ihn beobachtete. »Ich finde es schön, Mainie!«
Sie lächelte. »Das sehe ich.«
John lächelte ebenfalls. »Haben Sie Ihre Bedenken inzwischen überwunden?«
»Die meisten schon, aber noch nicht alle. Ich gewöhne mich zwar langsam an die Bewegung, aber ich fürchte mich schon jetzt vor dem Absteigen.«
»Machen Sie sich keine Sorge. Das ist sehr viel leichter, als hinaufzukommen.«
Danach schwiegen sie, und Charmaines Blick wanderte von John zu dem Blattwerk um sie herum und den exotischen Vögeln und kehrte dann wieder zu Pierre und ihm zurück. Dabei bemerkte sie, dass er sie nachdenklich musterte. Doch sie hielt seinem Blick tapfer stand. »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie.
Er zog eine Braue in die Höhe. »Was soll denn nicht stimmen?«
»So, wie Sie mich anstarren, rechne ich mit dem Schlimmsten. Vielleicht habe ich ja eine Warze auf der Nase.«
»Eine Warze? Nein, my charm , Ihre Nase ist perfekt … perfekt geformt.« Er sah sie an.
»Und?«
»Darf ich Vollkommenheit denn nicht bewundern? Ich will Ihnen nicht schmeicheln, Miss Ryan, aber ich hätte nie gedacht, dass Sie so perfekt auf dem Pferd sitzen würden. Für eine Anfängerin wirklich vollkommen.«
Sie hatte das Gefühl, dass er sich über sie lustig machte. »Komplimente taugen nichts.«
Die Antwort kam schnell – und verwirrte sie. »Das war kein Kompliment, sondern eine Beobachtung, die einige Fragen beantwortet.«
»Zum Beispiel?«
»Weshalb Sie als Gouvernante angestellt wurden.«
»Sie wollen wohl nicht unterstellen, dass ich diese Stellung meinen Fähigkeiten als Reiterin verdanke, oder? Ihre Gedankengänge verblüffen mich immer wieder.«
Ein wildes Lächeln spielte um seine Lippen. »Das höre ich gern. Ganz gleich, was ich bin – jedenfalls bin ich nicht langweilig.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Mir war nicht bewusst, dass Sie etwas gefragt hätten.«
»Ich wüsste gern, welche Verbindung Sie zwischen meiner Stellung als Gouvernante und meinen Fortschritten auf diesem Tier erkennen?«
»Oh, diese Frage. Ich habe mir über Ihre Fähigkeit Gedanken gemacht, sich auf ein neues Wagnis einzulassen. In diesem Fall war es die Stute. Diese Facette Ihres Charakters erklärt, warum Sie die Position erhalten haben. Selbst in großer Angst haben Sie sich beherrscht und Ihr Ziel nicht aus den Augen verloren. Das ist bewundernswert.«
»Sie machen sich über mich lustig.«
»Aber nein, Miss Ryan. Ich verstehe das als Kompliment. Im Leben der Kinder spielen Sie eine wichtige Rolle.«
»Bemerken Sie das erst jetzt?«
»Nein. Aber das war der Grund, warum ich zu Beginn Ihre Fähigkeit in Zweifel gezogen habe.«
»Zu Beginn?«, fragte sie überrascht. »Und
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