Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
eine solche Szene erinnern konnte. »Falls Sie hoffen, dass ich Ihre Spekulationen bestätige, so will ich sie augenblicklich im Keim ersticken! Ich habe nicht die Absicht, diese Unterhaltung fortzusetzen.«
»Ich spekuliere nicht – ich weiß es. Ich bin mit ihm aufgewachsen. Mein Bruder ist vieles, aber ein zölibatärer Mensch ist er sicher nicht. Er hat schon immer alle Früchte genossen, derer er habhaft werden konnte.«
»Ach ja? Und woher wissen Sie das? Haben Sie auch mit einem Glas an der Wand gelauscht?«
»Das musste ich gar nicht.« Er lachte leise. Ihre kecke Antwort gefiel ihm. »Paul hat seine Affären niemals geheim gehalten. Im Gegenteil. Er hat sogar oft damit geprahlt.«
»Viele Menschen prahlen, aber in meinen Augen ist das noch kein Beweis.«
»Wollen Sie ihn jetzt auch noch verteidigen?«
»Ich verteidige ihn nicht!«
»Nein?«
»Nein!«
»Warum wollen Sie meine Warnung dann nicht beherzigen?«
»Was zwischen Paul und sonst wem passiert ist, geht mich nichts an.«
»Warum sprechen Sie in der Vergangenheit?«
Es stieß sie ab, wie er über seinen Bruder redete. »Ich weigere mich, Ihre Lügen zu glauben.«
»Glauben Sie, was Sie wollen, aber heulen Sie später nicht! Ich habe Sie gewarnt«, schnaubte er. So naiv war diese Frau bestimmt nicht!
»Ich brauche keine Warnungen.«
»Dieses Hausmädchen … diese Millie Thornfield …«
Rasch sah Charmaine ihn an.
»Früher war die üppige Felicia seine Favoritin, aber so, wie die sich mir gegenüber benimmt, vermute ich, dass Paul dieses Feld im Augenblick nicht beackert. Ich wette, dass Millie Thornfield die Nächste ist, wenn er bei Ihnen nicht weiterkommt.«
»Aber Millie ist erst sechzehn!«
»Genau das richtige Alter – keine Krankheiten.«
»Das reicht!«, empörte sich Charmaine. »Ich habe genug gehört!«
Verwundert drehten sich die Zwillinge im Sattel um. Aber John lächelte nur und winkte. Einen Moment später waren sie wieder vergessen.
»Bestimmt wird es für Paul schwierig, Millie unter den Augen ihres Vaters zu verführen. Deshalb sollten Sie sich in Acht nehmen. Es sei denn, Sie möchten …«
»Seien Sie nicht unverschämt!«, zischte sie. »Und was Ihre galante Warnung betrifft, so war sie unnötig. Ich bin keine Schlampe, die sich ohne priesterlichen Segen an einen Mann verschenkt. Also sparen Sie sich Ihre Anspielungen!«
»Eine Hochzeit?« Er lachte spöttisch. »Sie glauben, dass Paul Sie heiratet?«
Sein Ausbruch trug ihm erneut die fragenden Blicke der Zwillinge ein.
Charmaine ließ den Kopf sinken, als ihre heimlich gehegten Träume so plötzlich zerschellten. Wie kindisch sie ihr plötzlich vorkamen! Eine Hochzeit. Natürlich würde Paul keine kleine Angestellte heiraten. Nun ja, sie war immerhin die Gouvernante – und doch, wie Felicia ganz richtig bemerkt hatte, nur eine Bedienstete wie alle anderen.
»Es tut mir leid, falls Sie getäuscht wurden«, fuhr John fort. »Doch selbst wenn mein Bruder wollte, könnte er Sie nicht heiraten. Geld heiratet immer Geld, und das erst recht, wenn das Vermögen begrenzt ist. Paul ist nicht der Erbe meines Vaters. Jedenfalls noch nicht. Wenn er also heiratet, muss er sein Vermögen schon in eine reiche Frau investieren.«
Charmaines Schmerz ließ ein wenig nach. Trotz seiner klugen Analysen hatte dieser Mann keine Ahnung von Liebe und all ihren wunderbaren Möglichkeiten. Er war unfähig zu lieben, hatte niemals geliebt und betrachtete eine Frau nur als Geldanlage, so wie andere sich eine Stute oder ein Schiff kauften. Er konnte nicht auf starke Gefühle hoffen, die einen Mann manchmal dazu bewogen, mit den Regeln der Gesellschaft zu brechen und sich mit einem Menschen von einfacher Herkunft zusammenzutun, der vielleicht arm, aber dafür reich an Liebe war.
»Der liebe Paul wird sich wohl oder übel eine reiche Frau suchen müssen«, fuhr John fort. »Ich dagegen kann heiraten, wen ich will.« Er lachte wehmütig.
Charmaine bemerkte die Ironie sehr wohl. Fürchtete er, dass sein Vater ihn enterben könnte? Als sie in seiner Miene nach Antworten suchte, wandte er sein Gesicht ab und ließ sie über seine düstere Bemerkung grübeln.
Yvettes Rufe lenkte ihre Blicke nach vorn. »Sieh nur, Johnny, ein Reiter.«
»Wenn man vom Teufel spricht …«, murmelte er.
Während Paul auf seinem Schimmel heranritt, fragte sich Charmaine, wie er wohl reagieren würde. Sicher missfiel ihm, dass John mit den Kindern einen Ausflug machte, obwohl sie um diese Zeit
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