Der Fluss der Erinnerung: Roman (German Edition)
besser.«
Als er mit ausgestreckten Armen auf sie zugehen wollte, nahm sie ihm die Kämme aus der Hand. »Vielen Dank, das mache ich lieber allein.«
Anschließend streifte sie kleine Zweige und Blätter von ihrem Kleid und war sehr erleichtert, dass es nicht völlig verdorben war. Als sie aufsah, führte John die graue Stute heran. »Bereit für einen zweiten Versuch?«
»Das ist nicht Ihr Ernst!«
»O doch.«
»Nein, Sir. Nicht für eine Million Dollar steige ich noch einmal in den Sattel.«
»Und warum nicht?«
»Warum nicht?Sie haben doch gesehen, was passiert ist. Dazu ist mir mein Leben zu kostbar!«
»Sie haben nur zwei Möglichkeiten, Miss Ryan. Entweder steigen Sie wieder auf, oder wir setzen Pierre auf Ihre Stute und Sie müssen mit meinem Sattel vorliebnehmen.«
»Oh! Ich bekomme ein eigenes Pferd!«, jubelte Pierre.
»Ich entscheide mich für die dritte Möglichkeit«, sagte Charmaine. »Ich gehe zu Fuß!«
»Zu Fuß? Dann gibt es aber heute kein Picknick mehr!«
»Das bezweifle ich.« Sie drängte sich an ihm vorbei und ging einfach los.
John fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Dann setzte er Pierre auf die Stute. »Halte dich fest«, ermahnte er ihn, bevor er Phantoms Zügel packte und Charmaine mit großen Schritten folgte.
»Woher kennen Sie eigentlich diesen Weg?«, fragte Charmaine nach einiger Zeit.
»George und ich haben ihn als kleine Jungen entdeckt. Damals haben wir überall gejagt und dabei den Pfad gefunden. Die Sträflinge benutzen ihn manchmal.«
»Manchmal? Warum nur manchmal?«
Als er erklären wollte, dass der Pfad für vierrädrige Karren zu schmal war, kam ihm ein Gedanke. »Wenn die Männer es eilig haben, benutzen sie den Weg manchmal als Abkürzung. Aber nur auf einem Pferd.«
»Und warum? Gibt es hier wilde Tiere?«
John schwieg.
»Aber sicher keine gefährlichen, wenn Sie hier gejagt haben, oder?«
»Doch.«
»Doch, was? Sind die Tiere gefährlich, oder haben Sie hier gejagt?«
»Beides. Wir haben hier in der Gegend ein paar Klapperschlangen gefangen und getötet.«
»Klapperschlangen?« Wie wild schossen ihre Blicke hin und her. »Was haben wir dann hier zu suchen?«
»Heute ist die Gegend ungefährlich«, beruhigte er sie. »Sie wurde schon vor Jahren gesäubert. Seit George seine Trophäe erlegt hat, wurde keine Schlange mehr gesichtet …«
»Warum benutzen die Sträflinge den Weg dann nicht öfter?«
»Diese Angsthasen fürchten sich sogar vor ihrem eigenen Schatten und erzählen gern vom alten Lavar, der angeblich gebissen wurde, bevor er starb. Nach Dr. Blackfords Angaben konnte von einem Schlangenbiss keine Rede sein.«
»Aber seinen Fähigkeiten kann man doch nicht trauen …«
»Das ist wahr. Wie dem auch sei – im Sattel hat man jedenfalls nichts zu befürchten. Zumindest sollte man feste Stiefel tragen. Gegen dickes Leder können Schlangen nichts ausrichten.«
Als Charmaine Johns Stiefel mit ihren dünnen Schuhen verglich, wollte sie plötzlich nur noch im Sattel sitzen. »Vielleicht sollte ich es ja noch einmal versuchen«, schlug sie vor. »Dann kämen wir auch schneller voran.«
Sie umrundeten die Biegung und erreichten die Stelle, wo die Zwillinge warteten. »Wurde sie abgeworfen?«, fragte Yvette.
»Genau wie du beim ersten Mal.«
Yvette zog eine Schnute, hielt aber den Mund.
Schmunzelnd half John der Gouvernante in den Sattel. Dieses Mal blitzten die Unterröcke nur für Sekunden auf. Dann setzte er Pierre auf den Sattel und führte Phantom nach vorn.
»Geht es Mademoiselle gut?«, fragte Jeannette.
»Aber ja. Ihr Pferd war nur hungrig.«
Anfangs beherzigte Charmaine Johns Ratschläge, doch nach einer Weile entspannte sie sich und sah sich um. Sie bewunderte die hohen Palmen und die weiß und blassgelb blühenden Sabadillpflanzen und Flaschenkürbisse zwischen den mächtigen Feigenbäumen mit ihren lianenartigen Bärten, die wie die Taue einer Takelage von den Ästen herabhingen und vielen tropischen Vögeln eine Heimat boten. Die sanfte Brise frischte auf, je länger sie ritten, und bald lichtete sich auch der Wald. Als sich der Weg verbreiterte, ließ sich John zu Charmaine zurückfallen. Die Luft roch nach Salz, und man konnte hören, wie sich die Wellen am Strand zu ihrer Rechten brachen.
Als Charmaine gerade fragen wollte, wie lange der Weg noch parallel zum Strand verlief, bemerkte sie, dass Pierre an Johns Brust lehnte und die Augen geschlossen hatte. John folgte ihrem Blick. »Ein unglaublicher Junge«, murmelte er
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