Der Fluß
während ich in der Hochschule für Musik bin?« sage ich und spüre sofort einen Stich im Magen.
»Ich werde mir für unsere Hochzeit etwas zum Anziehen kaufen«, sagt sie. »Du warst besorgt über meinen kleinen Koffer, den ich mitgenommen habe, aber mein Koffer wird auf der Rückreise um einiges größer sein, das darfst du mir glauben. Du mußt noch viel über Frauen lernen, mein Junge. Und mir ist es aufgebürdet, dir das beizubringen.«
Sie wirkt jetzt völlig unverkrampft. Kümmert sich eigentlich nicht darum, daß ich gleich vor einem der größten Musikpädagogen der Welt spielen muß.
»Du schaffst das schon«, sagt sie mit einem vielsagenden Nicken.
»Natürlich«, sage ich.
Ich lasse sie allein im Hotelzimmer zurück, habe diesmal keine Angst. Sie hat mir ja gesagt, was sie machen möchte. Sie möchte einkaufen. Schuhe und Kleidung und das Hochzeitskleid. Sie hat das Schlimmste hinter sich. Sie hat die ganze Nacht geliebt. Heute kann ihr nichts passieren.
Ich gehe zur Hochschule für Musik. Noch nach so vielen Jahren erinnere ich mich an den entkräfteten Körper, den gewichtslosen Kopf, das leichte Gefühl der Grenzenlosigkeit. Nie zuvor hatte ich eine Frau eine ganze Nacht geliebt. Jetzt gehe ich durch Wiens Straßen, schwindlig und zugleich stark. Ich habe die Noten unterm Arm. Ich werde Seidlhofer treffen. Ich werde wichtige Korrekturen erfahren.
Ich betrete ein Gebäude, in dem es nach Schuhcreme und Desinfektionsmittel riecht, wo ein Hausmeister hinter einer Glasscheibe sitzt, wo die Fenster hoch sind. Der Mann nickt schwach, erhebt sich und rasselt mit Schlüsseln. Er schließt auf und folgt mir in einen Korridor. Ich sehe hohe Türen, höre leise Musik. In allen Räumen wird gespielt. Chopin von links. Beethoven von rechts. Danach Schubert von links. Ravel von rechts. Studenten aus aller Welt hasten durch den Korridor, unterwegs zu ihren Professoren oder zu ihren Übungsräumen. Der Hausmeister bleibt vor einer der Türen stehen und klopft an.
Von drinnen hört man ein »Ja?«
Der Hausmeister öffnet und läßt mich ein.
Die Methode des Professors
Es ist ein großer Raum und in der Mitte auf einem roten Teppich steht der größte Bösendorfer. Einige Notenständer. Bruno Seidlhofer erwartet mich, sitzt auf einem Stuhl. Komme ich zu spät? denke ich erschrocken. Aber Bruno Seidlhofer wirkt weder zornig noch gereizt. Er war mit Schreibarbeiten beschäftigt. Er blickt kurz auf hinter seiner Brille. Ich erkenne sein Alter. Er ist nicht mehr jung. Aber er begrüßt mich mit einem freundlichen und milden Gesichtsausdruck. Vielleicht trinkt er abends Bier. Vielleicht trinkt er zum Mittagessen Grünen Veltliner.
»Aksel Vinding«, sage ich und verbeuge mich.
Er nickt, fast amüsiert.
»Vinding«, wiederholt er. »Also Wind. Föhn? Oder kalter Wind?«
»Weder noch«, antworte ich mit einem Lächeln.
»Gut«, sagt er. »Denn obwohl die Föhnwinde vor allem am Alpenrand vorkommen, herrscht im Moment in Wien eine Art Föhn. Spüren Sie es nicht, junger Mann? DieserWind läßt die Menschen verrückt werden, sie lieben dann hemmungslos oder töten sich gegenseitig mit Schlachtermessern.«
Ich denke daran, was Marianne und ich vergangene Nacht getrieben haben. Dann denke ich an die mögliche Konsequenz dessen, was er eigentlich sagt, und verspüre eine plötzliche Unruhe.
Er sieht es. Versucht, mich zu beruhigen. »Nehmen Sie das nicht wörtlich, junger Mann. Wien ist Wien. Die Stadt und die Menschen lassen sich nicht von dem erstbesten warmen Wind umwerfen. Ich weiß, Sie haben ein nicht unbedeutendes Projekt vor sich. Sie sind eine große Begabung. Das habe ich dem Brief meiner verehrten Kollegin Selma Lynge entnommen. Wie geht es ihr?«
»Es geht ihr gut«, sage ich. »Aber wir bedauern natürlich alle, daß sie nicht mehr spielt.«
Er nickt nachdenklich. »Ja«, sagt er. »Sie war ganz besonders talentiert. Ich verstehe eigentlich nicht, was sie veranlaßt hat, aufzuhören. Die Liebe ist eine gefährliche Angelegenheit. Sie kann zu akuter geistiger Verwirrung führen.«
Dann spiele ich Professor Bruno Seidlhofer vor. Ich spiele Beethoven auf einem ungestimmten Bösendorfer-Flügel, und ich tue das mit einem Übermut, von dem ich später denke, ich werde ihn wohl nie wieder haben. Daran ist allein die vergangene Nacht schuld. Vollendung und Verwirklichung. Der Ernst des Lebens. Das Glück – trotz allem. Das alles ist Beethoven in seiner Musik.
Wir verplempern keine Zeit. Ich stelle
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