Der Fluß
ein extrem langsames Tempo für diese Musik am besten paßt.Da nähere ich mich im Ausdruck einem traumähnlichen Zustand, der Meditation sehr nahe kommt. So ist es außerdem einfacher, die Fuge als das große Crescendo, das sie ist, aufzubauen. »Stell dir dabei einen Trauergesang vor«, sagt sie. Und bei dieser Vorstellung löst sich etwas in mir. Als müsse ich trotz meines jugendlichen Alters in diesem Konzert eine Trauer vermitteln. Das ehrgeizig zusammengestellte Programm zeigt Wirkung, merke ich. Und beim letztenmal vor der Abreise nach Wien, als ich für Selma Lynge das ganze Konzert spiele und mit den geplanten Zugaben von William Byrd aufhöre, hat sie Tränen in den Augen und wirkt tief bewegt. Sogar die Katze starrt mich mit einer Art von Respekt an.
Ich habe mit keinem Wort erwähnt, daß Marianne mitkommen wird nach Wien.
Als der Montag kommt, an dem wir abreisen wollen, stelle ich fest, daß Marianne fast nichts gepackt hat, und ich werde unruhig.
»Weißt du, was du anziehen willst?« sage ich besorgt.
»Klar«, sagt sie. »Laß mich nur machen. Ich habe alles im Griff. Du kannst mir vertrauen.«
Ich bin bei Ferner Jacobsen gewesen und habe mir einen neuen Anzug gekauft. Ich fühle mich stark und imstande, alles, was vor mir liegt, zu schaffen. Marianne wirkt entspannt und froh, auch wenn sie nicht mehr soviel Wein trinkt wie früher. Sie sagt:
»Auch wenn wir heiraten, so ist doch dein Debüt im Moment das wichtigste.«
»Das ist nicht dein Ernst«, sage ich. »Was kann wichtiger sein als das, was wir uns nun bald versprechen werden?«
Sie antwortet nicht, küßt mich aber rasch auf die Wange.
Die Reise nach Wien
Im Morgengrauen des 19. April 1971 stehen wir jeder mit seinem Koffer in der Hand bereit, zum erstenmal in unserem Leben nach Wien zu fahren. Ich habe mehr Reisefieber als sie, vielleicht, weil sie viel öfter verreist ist als ich. Sie war in Amerika, in Asien, in London und Paris. Ich bin nur an Norwegens Südküste gewesen und in der Klinik zwischen den Bäumen.
Im Taxi hinaus zum Flughafen nach Fornebu reden wir darüber.
»Bist du tatsächlich noch nie verreist? Gab es für dich nur Elvefaret, Melumveien, Sandbunnveien und die Straßenbahn von Røa zum Nationaltheater?«
»Ja«, sage ich etwas ärgerlich, weil ich erröte. »Wir hatten kein Geld, verstehst du.«
»Apropos Geld«, sagt sie mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Ich weiß, daß du, oder wer auch immer, für uns im Hotel Post gebucht hast. Ich habe mir erlaubt, auf meine Kosten umzubuchen. Meine Finanzen sind zwar nicht unbegrenzt, aber ich habe mehr als du und meine deshalb, daß wir diese fünf Tage im Hotel Sacher wohnen sollten. Das liegt im Zentrum, einen Katzensprung weg vom Musikverein, du erreichst die Hochschule für Musik bequem zu Fuß. Außerdem bietet das Hotel etwas, worauf wir Frauen Wert legen.« »Was denn?«
»Eine weltberühmte Schokoladentorte.«
»Ach so.«
»Außerdem«, fährt sie fort, jetzt in Hochform, »erlangte das Hotel seine Berühmtheit durch Anna Sacher, der Schwiegertochter des ursprünglichen Besitzers. Sie war bekannt dafür, Zigarren zu rauchen und das Leben zu genießen. Das Hotel wurde so auch zu einem Liebesnest und einem Ort für alle möglichen promiskuitiven Allianzen.«
»Und du meinst, da gehören wir dazu?«
»Klar«, sagt sie und lacht. »Siebzehn JahreAltersunterschied, ich eine frische Witwe, du jemand, der Frauen seiner Generation, die verrückt danach sind, ihn zu verführen, abblitzen läßt. Und beide tun wir das freiwillig und vielleicht sogar mit Freude.«
»Gratuliere«, sagt der Taxifahrer.
Ich muß auch lachen. Ich mag sie, wenn sie in dieser Stimmung ist. Wenn sie den Fahrer fragt, ob sie im Taxi rauchen darf, wenn sie die Beine übereinanderschlägt und sich im Sitz zurücklehnt. Sie hat die Initiative ergriffen. Ich bin froh, weil sie endlich für diese Reise aktiv geworden ist und nicht nur mitkommt nach Wien, wie ich einen Augenblick das Gefühl hatte, sondern überzeugt ist von der Reise, überzeugt von der bevorstehenden Eheschließung, überzeugt von meiner Vorbereitung.
Auf dem Flug hinunter nach Europa trinken wir Champagner und Wein, alle beide. Ich habe ihr versichert, daß ich mir einen freien Tag erlauben kann, daß ich mich auf das Treffen mit Professor Seidlhofer am nächsten Tag gut vorbereitet fühle. Zum erstenmal seit einem halben Jahr reden wir mit einer Unbeschwertheit, die wir nach der schrecklichen Nacht im Oktober
Weitere Kostenlose Bücher