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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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die, die sich eben abgespielt hat, nicht alltäglich für sie. Das tröstet mich. Demnach muß ich besonders wichtig für sie sein, ein Auserwählter. Sie tätschelt meinen Rücken, während ich das Erbrochene aufwische. Sie geht mit mir, zuerst zum Klo, wo ich das Erbrochene beseitige, danach in die Küche, wo ich beide Lappen mit heißem Wasser ausspüle und sie in einen Eimer mit warmem Wasser und Seife lege. Die Tür zum Flur öffnet sich. Sie hört es nicht. Aber ich drehe mich um. Es ist Torfinn Lynge. Er schaut mich erschrocken an, mit zerzausten Haaren und hervorquellenden Augen. Ich lasse mir nichts anmerken. Vergesse, daß mein Gesicht von Blut und Rotz verschmiert ist. Wenn er das Schreien und Toben gehört hat, kann ich dazu nichts sagen. Hier ist alles normal. Ich habe nur den intensiven Wunsch, Selma Lynge zu beschützen, damit der Professor nicht erfährt, was sich eben im Wohnzimmer abgespielt hat. Ich bin davon überzeugt, daß auch Selma Lynge die Angelegenheit vor ihm verbergen will. Als sich die Tür wieder schließt und wir allein sind, bin
    »Aber Aksel, wie sieht denn dein Gesicht aus! Du mußt das Blut abwaschen! Geh sofort ins Bad!«
    Ich tue, was sie sagt.
    Torfinn erwartet mich im Flur. Sein Blick ist noch verrückter als sonst.
    »Was geht hier vor?« flüstert er und deutet mit einem Finger auf die Wohnzimmertür und mit einem andern auf mein Gesicht.
    »Nichts«, flüstere ich. »Nur ein bißchen Nasenbluten.«
    Er winselt wie ein Hund, schaut mich angstvoll und ratlos an. Dann läuft er laut jammernd die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer.

    Als ich gewaschen zurückkomme, sitzt Selma Lynge mit gekrümmtem Rücken wartend im Wohnzimmer. Sie hattenoch nie einen krummen Rücken. Als sie mich sieht, richtet sie sich auf, versucht, die Position einzunehmen, die ich kenne.
    »Wir müssen miteinander reden, Aksel«, sagt sie.
    »Ja«, sage ich und habe Angst vor dem, was jetzt kommt. Vielleicht ist nun Schluß. Vielleicht gibt sie mich auf. Gerade jetzt wäre das schrecklich. Ich ertrage nicht noch mehr Schläge.
    »Ich hatte mich so gefreut, dich wiederzusehen«, sagt sie. »Ich habe den Sommer genutzt, große Pläne für dich zu machen.«
    »Du bist immer so besorgt um mich«, murmle ich.
    »Große Pläne, Aksel.«
    Ich nicke, schlucke, trinke Tee.
    »Du weißt, gut spielen heißt mit innerer Kraft spielen. Heute hattest du keine innere Kraft. Hattest fast keine Technik mehr. Als du Chopin spieltest, hast du etwas Wichtiges verraten. Du weißt, daß Tausende von Pianisten diese Etüden spielen, diese technischen Alpträume. Für manche sind sie nur eine Strafe. Aber für die Besten, die Auserwählten, ist es Musik. Phantastische Musik mit vielen Schichten. Deshalb ist Chopin dieser Chopin und Czerny dieser Czerny. Aber du hast Chopin so gehorsam und talentlos gespielt, wie diese Etüden täglich von Tausenden junger Pianisten gespielt werden. Außerdem warst du technisch schlecht. Aber schlechte Technik ist keine Entschuldigung dafür, nicht zu interpretieren, keine Form zu finden. Das hast du nicht begriffen. Du warst völlig auf die Technik fixiert. Du dachtest, ich sei auch nur darauf fixiert. Du hast nicht begriffen, daß ich, als ich mich näher zu dir setzte, die Musik hören wollte, ungeachtet deiner technischen Leistung. Hast du immer noch nicht begriffen, was ich dir immer klarmachen will? Erinnerst du dich nicht mehr an deine Kindheit? Du warst wie alle andern ein kleiner Rotzbengel. Dein einziges Zielwar die nächste Dreckpfütze. Immer wieder. Das ist bei allen Kindern so. Warum war Gott so böse? Warum hat er es so eingerichtet, daß das Ziel aller Kinder, die geboren werden, die Dreckpfütze ist? Warum gibt es nicht von Anfang an das Saubere und Reine als Ziel? Wir sind offensichtlich dazu geboren, uns schmutzig zu machen. Gleichzeitig sind wir Menschen. Wir haben einen Willen. Wir wissen, daß wir sterben werden. Verbietet uns jemand die Dreckpfütze, heulen wir vor Verzweiflung und brüllen: » Ungerecht! « Aber wir kommen nicht weiter. Die Erwachsenen, die diesen Weg vor uns gegangen sind, sagen uns, daß das, was wir in den ersten Jahren unseres Lebens instinktiv tun wollen, falsch ist. Wir sind dazu geboren, Dreck zu lieben, uns im Schlamm zu wälzen. Im günstigsten Fall werden wir zu der Einsicht erzogen, daß dieser Instinkt nicht unser Freund ist. Trotzdem gelangen viele aus unterschiedlichen Gründen nie zu dieser Einsicht. Du kannst es an deinen Zeitgenossen

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