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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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wir uns liebten. Ein warmer und dumpfer Geruch, der aus dem Bauch kommt. »Ich habe es nicht böse gemeint. Aber auch in meinem Leben gibt es Dinge, die etwas bedeuten. Du bedeutest etwas, Aksel. Als ich dich zum erstenmal sah, erkannteich, daß du ein seltenes Talent bist. Ein Auserwählter. Du hast mich beeindruckt. Anja und Rebecca haben mich auch beeindruckt, aber anders. Rebecca besaß die innere Kraft, aber keinen Willen. Anja hatte den Willen, aber keine Kraft. Du kannst sowohl den Willen wie die Kraft erringen. Aber dazu mußt du zuallererst wollen . Die harten, einsamen Tage. Stunde um Stunde am Flügel. Willst du das? Gerade jetzt überlege ich, ob du genügend Kraft und Willen hast, um in neun Monaten zu debütieren.«
    Ich schaue sie an, unsicher und verlegen.
    »Habe ich das? So schlecht, wie ich spielte?«
    Sie zuckt die Schultern. »Jeder kann einmal schlecht spielen. Ich habe dich gut spielen hören. Es hängt von deinem Willen ab, Aksel. Jeder hat eine Rebecca Frost in seinem Leben.«
    »Debütieren? Nächstes Jahr im Juni?«
    »Ja, am Mittwoch, den neunten Juni.«
    »Ein bekanntes Datum.«
    »Wirklich?« Sie lächelt verlegen. Ich habe sie noch nie verlegen gesehen.
    »Dein Geburtstag«, sage ich.
    Sie errötet.
    »Ja, an dem Tag habe ich Geburtstag. Bitte, sage es niemandem. Es ist nicht deshalb. Das spielt keine Rolle. Ich möchte mich nicht selbst feiern. Das muß geheim bleiben. Ich habe den fünfzigsten Geburtstag auch nicht gefeiert. Bei solchen Anlässen geht es darum, auf das Herz zu hören.«
    »Und was sagt dein Herz?«
    »Daß mir das Leben viel geschenkt hat und ich nur noch wenig verlangen kann – und daß dein Durchbruch mein schönstes Geschenk sein würde.«
    Ich küsse ihre Hand, die sie mir vor die Lippen gehalten hat. So möchte sie es haben. Sie liebt es, von mir verehrt zu werden. Sie erwartet das. Ich wiederhole die Geste, dasVersöhnungsritual. Wir brauchen vermutlich diese rituelle Spannung, die jederzeit ins Lächerliche umschlagen kann. Aber wir wissen beide, wo die Grenze ist.
    Im richtigen Moment zieht sie ihre Hand zurück.

    »Was, meinst du, habe ich den ganzen Sommer in München gemacht?« sagt sie.
    »Du hast an mich gedacht«, sage ich mit einem müden Lachen.
    »Ja, ich habe an dich gedacht. Willst du wissen, was ich dachte? Ich dachte, daß du mein letzter Schüler sein wirst.«
    »Was sagst du da?«
    »Doch, es genügt jetzt. Ich bin über Fünfzig. Ich habe gewaltige Enttäuschungen hinter mir. Sowohl Anja wie auch Rebecca waren meine großen Hoffnungen. Warum habe ich mich als Konzertpianistin zurückgezogen? Warum beschloß ich, den Namen Liebermann nicht weiter zu benutzen? Ich wollte mein Können an andere weitergeben. Ich war noch jung und übermütig. Ich glaubte, das Leben hätte viel mehr Möglichkeiten. Als ich von Deutschland nach Norwegen zog und von Torfinn den Namen Lynge annahm, war ich davon überzeugt, daß sich alle an mich erinnern würden, daß mich die alten Freunde anrufen und auf dem laufenden halten würden. Vor allem liebte ich Torfinn. Ich wünschte mir viele Kinder. Wie du weißt, bekam ich drei. Und Katzen waren noch mehr da. Und ich fand ein wunderschönes Haus mit einem Bösendorfer-Flügel. Trotzdem war das nicht genug. Die Schüler wurden die Voraussetzung für mein Leben. Ohne sie hätte ich nicht durchgehalten. Aber es gibt nicht allzu viele wirkliche Talente in Norwegen. Und die beiden letzten Jahre sind eine Katastrophe gewesen, weil Anja ebenso wie Rebecca, auf die ich gesetzte hatte, total scheiterten. Ich werfe ihnen nichts vor. Die eine ist unter tragischen Umständen gestorben. Die andere entschied sichfür die Mittelmäßigkeit und wird damit glücklich werden. Nun denn. Aber jetzt bist du an der Reihe. Jetzt habe ich keine Zeit mehr für weitere Fehlgriffe.«
    »Was willst du von mir?« frage ich leise.
    Sie schaut mich liebevoll an. Sie ist nicht länger die wahnsinnige Frau, die mit einem Lineal um sich schlägt. Sie ist die starke, ruhige, einsichtige Klavierpädagogin, die alle respektieren und bewundern.
    »Ich will, daß du nächstes Jahr am neunten Juni debütierst«, wiederholt sie. »Weißt du, warum?«
    »Nein.«
    »Weil das in neun Monaten ist. Weil das organisch ist, dem ewigen, grundlegenden Zyklus für uns Menschen entspricht. Weil es das letzte Debüt sein wird, hinter dem ich stehe. Weil ich danach zu unterrichten aufhöre und lieber über Richard Strauss und sein Verhältnis zur bayerischen Volksmusik

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