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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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innerhalb von Minuten in einen Fünfjährigen, einen hilflosen Knaben, der in seinem infantilen Übermut glaubte, dem Rektor trotzen oder ihn hintergehen zu können. Sie steht auf und geht zum Salontischchen, um etwas zu holen. Ich sehe, daß sie mit dem Lineal wiederkommt und mir einen schmerzhaften Schlag auf die Finger versetzt. Das ist ein psychischer und ein physischer Schock. Ich bin nicht vorbereitet. Das Lineal hat immer da gelegen, aber ich habe nie geglaubt, daß sie es benutzen würde. Ich fange an zu weinen. Sie läßt mich weinen, betrachtet mich ohne Mitgefühl, packt das Taschentuch, als ich die Nase putzen möchte, und dreht mir die Nase herum, um mich noch mehr zu strafen. Ein enormer Haß ist jetzt in ihr. Einen Augenblick denke ich, ob sie wohl imstande ist, meine Finger ernsthaft zu verletzen. Sie rennt wortlos im Zimmer herum, hält die Hände an den Kopf, bringt sich in einen zunehmend hysterischen Zustand. Murmelt. Schreit. Dann bleibt sie unvermittelt stehen. Sie fordert mich auf, die einfachsten Bach-Inventionen zu spielen, jede viermal, zur Strafe. Sie knallt die Noten auf das Notenpult und befiehlt: »Spiel jetzt! Spiele!« Ich heule und spiele. Rotz und Tränen rinnen. Plötzlich entdeckt sie Flecken auf meiner Hose. Sie regt sich darüber auf, während ich spiele. Schnaubt verächtlich. Das Lineal knallt auf den Flügeldeckel, auf den Klavierhocker, auf meinen Rücken. Sie schreit etwas auf deutsch. Ich verstehe die Wörter nicht. Sie hat recht. Hat immer recht gehabt. Sie kreischt, daß ich schlecht und sündig rieche. Ich weiß, daß das nicht stimmt. Ich dusche zweimal täglich. Aber wenn sie es sagt, ist es, als würde ich trotzdem den Geruch wahrnehmen. Daß ich stinke. Ja, wirklich. Es ist eine alte Hose, die ich aus dem Schrank geholt habe. Ichdachte, sie sei sauber. Sie nennt mich verweichlicht. Das ist ein Wort, das schmerzt. Verweichlicht. Charakterlos. Mittelmäßig. Obendrein mit Spermaflecken auf der Hose! All das schreit sie, während ich um mein Leben spiele. Aber die Bach-Inventionen sind nicht Strafe genug. Wir müssen noch tiefer. Sie will, daß ich Czerny spiele. »Nein, nicht Czerny!« sage ich. »Ruhe!« sagt Selma Lynge und versetzt mir mit dem Lineal einen Hieb auf die Nase. Ich fange an zu bluten. Das stört sie nicht. Neue Noten werden geholt. »Spiele!« befiehlt sie. »Spiele!« Sie weiß, daß ich diese Stücke hasse. Wir nähern uns dem tiefsten Punkt. Kein Bitten hilft. Das Blut läuft von der Nase, tropft zusammen mit dem Rotz und den Tränen auf die Klaviertasten. Aber ich tue, was sie sagt. Ich spiele Czerny. Ich spiele um mein Leben.
    Und noch so viele Jahre danach spüre ich den brennenden Schmerz des Lineals, mit dem die rasende Selma Lynge schließlich mit voller Kraft auf meinen Rücken schlägt, und ich vom Hocker kopfüber auf den Boden falle, auf dem Kaschmirteppich aus Seide liege und mich erbreche, bis mir schwarz vor Augen wird und ich das Bewußtsein verliere.
Versöhnung und Empfängnis
    Als ich zu mir komme, steht Selma Lynge mit einem feuchten Lappen über mir. Sie jammert.
    »Ach Aksel! Aksel! Was ist passiert? Was soll mit uns werden!«
    Benommen murmle ich etwas, versuche, auf die Beine zu kommen, habe zittrige Knie, will aber vor allem mein Erbrochenes aufwischen, gelb, sauer und unangenehm riechend. Sie besteht darauf, mir zu helfen. Sie hat zwei Lappen. Aber ich greife nach beiden. Die Nase hat aufgehört zu bluten.
    »Das tut mir so leid«, sage ich und habe ein enormes Schuldgefühl, als hätte ich das allein angerichtet.
    Da fängt auch sie zu weinen an. Selma Lynge weint. Dieser Anblick tut weh. Sie ist es nicht gewohnt, zu weinen, versucht, es zu verbergen. Versucht statt dessen zu lachen. Fletscht die Zähne. Dadurch sieht sie noch hilfloser aus. Aber Selma Lynge darf nicht hilflos sein! Wenn sie nicht stark ist, sinkt meine ganze Welt in Trümmer. Sie ist schockiert von dem, was eben geschehen ist. Das, was sie mit mir gemacht hat, könnte fatale Folgen haben. Das weiß sie sicher. Aber was habe ich ihr nicht alles angetan? denke ich. Aus der Ecke starrt uns die Katze abwartend an. Sie hat einen geheimen Namen, den nur Selma Lynge und die Katze kennen. Für alle andern heißt sie Katze. Ich schaue ängstlich Selma Lynge an, versuche zu verstehen, was in ihrem Kopf vorgeht. Selbst wenn sie sich einmal als temperamentvollen Abkömmling der Habsburger bezeichnet hat und ich spanisches Blut in ihren Adern vermutete, sind Szenen wie

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