Der Fluß
sehen. Die, die ihre Kleidung nicht waschen, bevor sie jemand dazu auffordert. Sie sind verdreckt, unappetitlich, sie haben fettiges Haar und Schuppen. Sie haben schmutzige Hände, und ich wage nicht einmal daran zu denken, wie ihre Kleidung riecht. Aber sie sind stolz darauf! So wie kleine Kinder stolz sind auf ihre Flegeleien, ohne zu begreifen, daß genau dieser Trotz ihnen selbst schadet. Sie revolutionieren nicht die Gesellschaft, wie das bei Lenin der Fall war. Sie schaden nur sich selbst. Eigentlich sehnen sie sich zurück in den Sandkasten, wollen sich im Dreck wälzen und die Spielkameraden mit Steinen bewerfen. Als Erwachsene werden sie tolpatschig, können rechts und links, süß und sauer, warm und kalt nicht unterscheiden. Schließlich enden sie im Altenheim, griesgrämig und grantelnd und mit verbissener Freude daran, sich zu bekleckern. Sie sind wieder am Ausgangspunkt. Die Forderungen und Verpflichtungen der Erwachsenen kümmern sie nicht mehr. Sie leben inglücklicher Unwissenheit dessen, was ihnen entgangen ist. Aber ist das wirklich deine Absicht, Aksel Vinding, im Mittelmaß zu versinken? Denk an Bach. Sein künstlerischer Erfolg zu Lebzeiten war nicht sonderlich groß, aber er arbeitete wie eine Ameise. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Wie lange, glaubst du, brauchte er für die »Matthäuspassion»? Nicht sehr lange. Er schüttelte sie sozusagen aus dem Ärmel, denn er hatte das dazu nötige Wissen. Um Künstler zu werden, brauchst du innere Kraft. Kraft in den Fingern. Kraft im Denken. Kraft im Leben. Aber bist du dazu bereit? Bereit für diese tägliche Anstrengung, diese Philosophie der Genügsamkeit, um dich zu einer wahren Meisterschaft zu veredeln und aufzusteigen aus der Verweichlichung? Die Entscheidung liegt bei dir.«
Mit dem Kopf in den Händen sitze ich da. Jetzt hätte ich mich entscheiden können. Hätte gehen können. Hätte frei sein können. Aber statt dessen höre ich mir ihre Tirade an, die Nachbeben ihres Wutausbruchs, die Rechtfertigung des Geschehenen. Glaubt sie selber daran? Immerhin gelingt es ihr, wieder die Positionen festzulegen. Das Machtverhältnis. Ich spiele den reuigen Sünder, obwohl ich mich völlig leer fühle. Ich weiß, daß ich für sie wichtig bin, daß ich es als Privileg ansehen sollte, einen solchen Wutausbruch zu erleben. Ich weiß, daß die Entscheidung, die ich jetzt treffen muß, die ich im Begriff bin, zu treffen, weil ich sitzen bleibe, lebenswichtig ist, lebensbestimmend. Wäre ich jetzt aufgestanden und gegangen, würde ich frei sein, und alles könnte geschehen. Ich entscheide mich, sitzen zu bleiben, weil ich weiß, daß diese Entscheidung für mein Leben wichtig ist, vielleicht am wichtigsten. Selma redet weiter, rechtfertigt sich weiter, versucht ihre Wut und ihre Enttäuschung über mich zu rationalisieren. Und auf diese Weise löscht sie mich aus, pulverisiert sie jeden selbständigen Gedanken, den ichgehabt hatte. Das, was gerade geschehen ist, erklärt sie zum Irrtum. Sie glaubt schließlich nach wie vor an mich! Und ich bestätige alles, wieder und wieder. Ich bin zu nichts anderem imstande, als ihr ewig gehorsamer, schwanzwedelnder Hund zu sein. Entzückt darüber, auserwählt zu sein, trotz meines großen Verrats. Nach wenigen Sätzen ist alles wie vorher, doch die Abhängigkeit, die wir jetzt voneinander spüren, ist womöglich noch stärker geworden. Wir haben beide in etwas hineingeschaut, was wir nicht hätten sehen sollen. Wir waren vertrauter miteinander geworden als leidenschaftliche Liebhaber. Und das erschreckt mich, daß sich die Verwandlung so rasch vollzieht, daß meine eigene Stärke verschwindet, daß alles, was ich in meinem Leben höre, wenn ich mich in diesen vier Wänden aufhalte, Selma Lynges psalmodierende Stimme ist, wieder und wieder. Dabei schaut sie in den kleinen Make-up-Spiegel und renoviert ihr Gesicht ohne eine Spur von Scham.
Dann wird es auf einmal still. Sie hat endlich gemerkt, wie erschöpft ich bin. Es ist Abend. Es ist ganz dunkel im Zimmer. Selma Lynge hat kein Licht eingeschaltet. Ich höre den Laut der Schritte von Torfinn Lynge im oberen Stockwerk.
»Was machen wir jetzt?« fragt sie.
Sie beugt sich zu mir. Tätschelt mir den Kopf, streichelt meine Wangen, als sei ich ein Kind. Aber sie läßt mir keine Zeit, um zu antworten.
»Du mußt mir verzeihen, wenn ich so bin«, sagt sie und das schöne, ernste Gesicht ist meinem sehr nahe. Ich kann ihren Atem riechen, der mich an Anja erinnert, als
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