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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Whiskyglas auf dem Flügel?«
    Sie verhöhnt mich, wie sie es schon einmal gemacht hat, aber diesmal verwandelt sie sich in einen Menschen, den ich nicht kenne, wütend und verletzt, bereit, mich zu vernichten, mich mit Worten zu erdolchen, mir alle Würde zu nehmen. Ja, ich habe sie beleidigt. Sie hatte sich mehr erwartet. Ich sinke vor ihren Augen zusammen. Ich bin unfähig, zu antworten, unfähig, ein Wort zu meiner Verteidigung zu sagen. Wo ist die Kraft geblieben, die ich in den letzten Tagen spürte, bevor ich in den Sandbunnveien ging. Bewußt hatte ich Rebecca-Gedanken gedacht, daß ich vielleicht denPakt mit Selma Lynge löse, daß ihre Erwartungen zu hoch sind, daß ich mich ein für allemal von ihr trennen sollte. Aber das kann ich nicht! Ich fühle es mit allen Fasern des Körpers, daß sie eine Art absoluter Verfügungsgewalt über mich besitzt, daß sie mich hochgehalten hat, aus mir etwas anderes gemacht hat als den unförmigen Teigklumpen, der ich leicht hätte werden können. Sie ist gerade jetzt mein fester Punkt. Die Wörter brennen, treffen eine Wunde, deren Dasein ich vergessen hatte, die aber trotzdem meine Wunde ist, meine grenzenlose Abhängigkeit von ihr. Denn nur sie kann die Türen zur Welt öffnen. Nur sie kann aus mir den Musiker machen, der ich gerne einmal sein möchte. Solange sie sich für mich interessiert, habe ich eine Chance. Sie war einmal mit Hindemith befreundet. Sie hat einmal mit Rafael Kubelik für die Deutsche Grammophon die Brahms-Konzerte eingespielt. Sie kennt Lutoslawski und Ligeti, kennt Kempff und Haitink. So viele Geschichten aus ihrer Vergangenheit. Ich bin in der Bibliothek gewesen, habe in den Archiven nach Selma Liebermann gesucht. Ja, es gibt sie, und sie strahlt. Die legendären Konzerte, die sie am Ende der fünfziger Jahre gegeben hat, mit berühmten Orchestern und Dirigenten. Dann traf sie die Liebe, begegnete sie ihrem Professor, zog nach Norwegen, warf ihre Karriere hin. Und es ist nach wie vor ein Rätsel für mich, wie diese Leidenschaft aussieht, wie Torfinn Lynge, mit Schuppen auf der Stirn, über den Ohren und auf den Schultern, Speichel in den Mundwinkeln und Rotz in der Nase, eine gute Figur im Bett macht, am Mittagstisch, wo auch immer. Trotzdem erwählte sie ihn, wie Sophia Loren ihren Carlo Ponti wählte, wie die Schöne immer wieder das Biest sucht.
    Aber die Schöne hat selbst das Biest in sich. Und jetzt läßt sie es los, jagt mich zu einem Weltuntergang, mit dem ich in meinem jugendlichen Übermut nicht gerechnet habe. Sieweiß, daß es mir schlechtgeht. Und sie will, daß es mir noch schlechter gehen soll.

    In dem Augenblick hätte ich gehen können, hätte meine Fehler zugeben und einen Rest von Würde bewahren können. Statt dessen sitze ich mit gekrümmtem Rücken da und höre sie an. Sie hat ja recht mit allem, was sie sagt. Ich spiele schlecht, noch schlechter als vor dem Sommer. Es ist abwärts gegangen mit mir. Ich habe die letzten Monate nicht genutzt. Ist das der Grund, warum ich bei Marianne Skoog einziehe? Ins Totenhaus? Das noch düsterer ist als Selma Lynges Haus? Das ein Tatort ist? Glaube ich in meiner Verzweiflung etwa, ich könne an Anjas Flügel das Gleichgewicht wiederfinden und mich auf die Musik und das Üben konzentrieren?
    »Was ist eigentlich mit dir passiert?« faucht Selma Lynge plötzlich. »Du hast dich entschieden, kein Abitur zu machen, um dafür alles auf die Pianistenkarriere zu setzen. Ich habe dich angenommen. Ich habe an dich geglaubt. Ich ließ dich bei mir studieren, unter der Voraussetzung, daß du auf mich hörst und große Fortschritte machst. Deine Darbietung war das Gegenteil, Aksel. War Schrott. Wieviel Zeit glaubst du denn noch zu haben? Es gibt überall auf der Welt Achtzehnjährige, die besser spielen als du jetzt. Was hat das für einen Sinn, Pianist zu werden, wenn du keinen Einsatz bringst? Ist es die tägliche Schinderei wert, um dann mittelmäßig zu werden? Was? Antworte! Antworte zum Teufel!« Ich sitze auf dem Klavierhocker, mir ist übel, und ich schreie sie an.
    »Versuch doch bitte zu verstehen, wie es mir ging!«
    »Wie es dir ging? In Rebecca Frosts Luxuswelt? Soll ich dich deshalb bemitleiden?«
    Sie hört mich nicht an. Will nicht hören. Ich habe sie verletzt. So viele Jahre später erinnere ich mich, als sei esgestern gewesen: An diesem Septembertag des Jahres 1970 breche ich in Selma Lynges Wohnzimmer zusammen. Hier, im finsteren Wohnzimmer im Sandbunnveien, verwandle ich mich

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