Der Fluß
habe sie so viele Jahre geübt. Aber bereits in der Etüde Nr. 2 zeigt sich meine Schwäche. Der vierte Finger ist noch nicht stark genug. Ich komme nicht in Schwung, spiele zu schwerfällig und werde bereits in der Hälfte steif. Sie hört es. Natürlich hört sie es. Ich spielte das viel besser vor einem Jahr. Aber sie läßt sich nichts anmerken.
In der Etüde Nr. 3 passiert es. Die sentimentale E-Dur-Etüde mit dem schönen Hauptthema und den gemeinen Sechzehnteln im Mittelteil, ein Prüfstein für die technische Kraft und die Konzentration. Bereits in der ersten Passage Tricksereien. Ich pfusche nicht nur in der Treffsicherheit, ich drücke das rechte Pedal ganz durch, um alles möglichst zu vertuschen. So etwas machen nur die schlechtesten Pianisten. Ich mache es in höchster Not. Und jetzt kommt der Schweiß, die Panik. Tropft von der Stirn. Die Fingerkuppen hinterlassen auf jeder Elfenbeintaste, die ich berühre, kleine Tropfen. Die Tasten werden glatt, die Finger rutschen und die Patzer häufen sich.
Aber ich spiele weiter! Noch viele Jahre später weiß ich nicht, warum das geschah, im Dämmerlicht im Sandbunnveien. War es eine Beichte? Wollte ich bekennen? Sehnte mich im Innersten danach, mich von Selma Lynge zu befreien? Ihren Erwartungen zu entkommen? Auf der Stelle von ihr heimgeschickt zu werden? Nein, meine Erinnerung sieht anders aus! Als ich da am Klavier saß, wollte ich ihr imponieren, wollte ihr zeigen, daß ich den Sommer dazu genutzthatte, ihren Anforderungen nachzukommen. Technisch besser zu werden. Aber während ich mich in eine immer schrecklichere Version von Chopins berühmtester Etüde verstricke, rückt Selma mit ihrem Stuhl näher, als wolle sie die Sache noch schwerer für mich machen. Tut sie das, um mein Gefühl von Freiheit einzuengen? In diesem Zimmer gibt es nur Selma Lynges Freiheit. Ihren Willen. Ihren Duft. Chanel Nr.5, der Duft nach Frau und Autorität. Und die Übelkeit, die ich jetzt verspüre, verheißt nichts Gutes. Aber ich beiße die Zähne zusammen und spiele zu Ende, komme zurück zu dem ruhigen E-Dur-Thema, versuche, möglichst viel Gefühl in den Ausdruck zu legen. Dann folgt die Stille. Die furchtbare Stille. Es ist zwecklos, denke ich und wage es nicht, sie anzuschauen. Als ich mit der Etüde Nummer 4 beginnen soll, der frechen cis-Moll Etüde mit dem wahnsinnigen Tempo, verläßt mich der Mut. Ich weiß, daß das noch schlimmer enden wird. Ich sitze ganz still auf dem Klavierhocker. Sie sitzt still auf dem Biedermeierstuhl, den sie zum Flügel gezogen hat. Sie sagt kein Wort.
Es vergeht eine Minute. Mindestens. Ich spüre, daß ich kurz davor bin, mich zu erbrechen.
»Hast du nichts zu sagen?« frage ich schließlich mit schwacher Stimme.
Sie blickt starr vor sich hin.
»Nein, was sollte ich zu sagen haben?« sagt sie tonlos in den Raum hinein.
»Du kannst dir denken, daß ich den Sommer anders verbrachte als geplant.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich war im Sommerhaus der Frosts.«
Ich sehe ihren ungläubigen Blick. Ich sehe die Enttäuschung, die sie empfindet. Sie hat Konzepte für mich entwickelt. Sie kennt Rebeccas Einstellung. Über Rebeccas Verrat wird sie nie hinwegkommen.
Ihre Augen sprühen jetzt. Sie ist außer sich vor Wut.
»Wie kannst du es wagen, meine Zeit auf diese Weise zu vergeuden!« Ihre Stimme ist laut und gellend.
»Ich weiß nicht, warum ich es getan habe«, sage ich mit puterrotem Gesicht.
»Du weißt das nicht? Das ist ein schlechtes Zeichen. Du solltest es am besten wissen. Es sind deine Hände. Es ist deine Entscheidung. Dein Ausdruck.«
»Ich habe zuwenig geübt«, sage ich. »Tut mir leid.«
»Tut dir leid?« schreit sie und kehrt die Augen gen Himmel. »Das ist eine absolute Beleidigung! Ich hätte mir irgendeinen Schüler vom Konservatorium holen können. Er würde besser spielen als du. Ist dir das klar? Begreifst du überhaupt, wie untalentiert du bist? Wo fange ich an? Gut, nehmen wir deine Wurstfinger. Diese ekligen, roten Finger, die mich schon im ersten Moment an dir zweifeln ließen. Sind sie nicht dicker geworden im Laufe des Sommers? Wieviel Bier hast du getrunken? Wieviel Wein? Rebecca ist hinterhältig. Du bist in ihr Luxusleben gestolpert und hast dabei dein Ziel aus den Augen verloren. So wie du die E-Dur-Etüde gespielt hast, kann jeder Bar-Pianist Chopin spielen. Das war widerlich, kraftlos, oberflächlich und fade. So spielt man für Nutten und Zuhälter. Willst du lieber Barpianist werden? Mit dem
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