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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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lebensgefährlicher täglicher Einfluß vonseiten der Natur, die dich allmählich krank im Geiste macht. Glenn steht jetzt mehr und mehr als Feigling da, der nur mit den Goldberg-Variationen überlebt. Womit sonst wird er uns in Erinnerung bleiben? Maurizio ist anders, mutiger, unberechenbarer, hat überall seine Finger im Spiel, obwohl er weniger begabt ist als Glenn. Aber er kann es sich leisten, sentimental zu sein, Gefühle zu zeigen. Und er hat nicht vergessen, was es heißt, jung zu sein. Ich habe von dir erzählt und deinen Qualifikationen. Er gab mir einen Rat: Beginne mit etwas Unerwartetem. Etwas Neuem und Frischen. Von dort kannst du dich zurückbewegen in der Musikgeschichte. Seinem Rat folgend, schlage ich vor der Pause Fartein Valen vor, zwei Präludien op. 29. Danach Prokofjew, die 7. Sonate. Mit dem wahnsinnigen zweiten Satz, den auch Anja Skoog spielte, als sie dich besiegt hat. Erinnerst du dich? Aber du wirst besser spielen, Aksel. Das Publikum wird dir aus der Hand fressen. Und dann bietest du etwas Schönes zum Ausruhen: Chopins f-Moll-Fantasie. Nach der Pause dann der tödliche Ernst: Beethovens op. 110. Warum? Weil es ein Leben umfaßt. Und schließlich Bach, die eigentliche Voraussetzung für die spätere Entwicklung der Musikgeschichte. Das cis-Moll-Präludium und die Fuge aus dem ›Wohltemperierten Klavier‹ erster Teil. Zugabe? William Byrd. Zuerst ›Pavan‹, dann ›Galliard‹.«
    Sie schaut mich enthusiastisch an, wie eine gleichaltrige Freundin. Flammende Begeisterung für ihr eigenes Projekt, das ja eigentlich meines sein soll. Jetzt ist sie die junge Studentin aus Deutschland. Glühende Wangen. Strahlender Blick. Von überfließender Zutraulichkeit. Die schreckliche Szene von vorhin ist vergessen. Es ist zu spät, sie zu lieben. Deshalb liebe ich sie. Das ist verläßlich. Das ist unmöglich. Rebecca war es, die warnend sagte: »Hüte dich vor Selma Lynge. Sie verführt junge Männer.« Aber vielleicht ist sie meine einzige Freundin momentan.
    »Ja«, sage ich dankbar. Irgendwie gelingt es ihr, mir vorzugaukeln, daß das machbar ist. Das Programm ist schwierig. Halsbrecherisch. Aber ich sollte es meistern können.
    »Ich finde keine Worte für deine Aufmerksamkeit«, sage ich. »Ich verspreche, zu üben, zuzuhören und zu lernen. Ich werde alles tun, was du sagst. Neun Monate ab heute?«
    Sie nickt vielsagend. »Neun Monate. Abgemacht?«
    »Abgemacht.«
    Sie nimmt meine beiden Hände. Das tut weh. Dann lacht sie glücklich, wie ein kleines Mädchen.
    »Endlich winkt mir das Leben zu«, sagt sie. »Endlich kann ich wieder an etwas glauben !«
Auf dem Heimweg
    Nichts ist wie vorher.
    Die Angst hat sich in mir festgebissen. Draußen in der Sternennacht schlendere ich hinunter zum Fluß. Bald höre ich das Rauschen. Aber ich gehe nicht den steilen Abhang hinunter. Ich bleibe oben stehen und schaue hinüber zum Wasserfall, in dem Mutter ertrank. Dann drehe ich mich um und schaue nach der anderen Seite. Da leuchtet ein Fenster. Das Haus liegt schwarz und düster zwischen hohen Bäumen.
    Drinnen sitzt Marianne Skoog und wartet auf mich, denke ich.

    Und ich verspüre eine stechende, triste kleine Freude, bald wieder in dieser Umgebung zu wohnen. Was wird in diesem Haus mit mir geschehen? Werde ich mich dort einleben? Was wird zwischen mir und Marianne ablaufen? Gelingt es uns, die Trauer zu überwinden? Jede Minute wird sie mich an Anja erinnern.
    Der Mond starrt mich an, groß und voll, steht knapp über den Baumspitzen mit seinem gespenstischen Licht. Ich stehe im Wind und bin zu dünn angezogen. Dann schaue ich aufdie Uhr und stelle erschrocken fest, daß Mitternacht bereits vorbei ist. Höchste Zeit, wenn ich die letzte Straßenbahn nach Hause erreichen will. Ich haste hinüber zur Haltestelle Lijordet. Kein Mensch ist auf der Straße, im Waggon bin ich mit dem Schaffner allein.
    Ich fühle mich erschöpft von all dem, was hinter mir liegt. Und als ich daran denke, was auf mich zukommt, erfaßt mich eine nie gekannte Müdigkeit. Das Debüt-Programm, das Selma Lynge für mich ausgesucht hat, macht mir angst. Besonders Beethovens op. 110. Warum will sie mich älter machen als ich bin? Diesen Fehler hat sie mit Rebecca auch gemacht. Ihr verordnete sie op. 109. Vielleicht bestand ihr ursprünglicher Plan darin, ihre drei Maskottchen, die gewissenhaften Schüler, Jahr für Jahr nebeneinander wie Perlen auf einer Schnur glänzen zu lassen? Rebecca mit op. 109, Anja mit op. 110 und mich mit

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