Der Fluß
op. 111? Ja, so könnte sie sich das gedacht haben. Aber Anja ist tot. Und jetzt habe ich op. 110 bekommen. Wie kann ich wissen, ob sie nicht einen weiteren Schüler in der Hinterhand hat, der op. 111 spielen soll? Wie auch immer, diese Sonaten sind von einem alternden Beethoven geschrieben worden, sind seine letzten. Warum läßt sie mich nicht die »Appassionata« spielen? Warum darf ich nicht jung sein und Leidenschaft zeigen? Es paßt nicht zu einem Neunzehnjährigen, der ich dann sein werde, op. 110 zu spielen, ebensowenig wie es zu einem Wunderkind paßt, die »Hammerklaviersonate« zu spielen. Rebecca spielte op. 109 ziemlich mittelmäßig, und das nicht nur, weil sie vorher über ihr Kleid gestolpert war.
Ich kann kaum sitzen auf dem Platz im Waggon. Der Rücken schmerzt. Die Finger fühlen sich an, als hätte ich sie in einer Tür eingeklemmt. Selma Lynge hat mit unheimlicher Präzision getroffen.
Haltestelle Røa. Kein Mensch. Nur die Nacht. Und unterhalb der Melumveien, der sich vorbei an meinem Elternhaus bis hinunter zum Elvefaret zieht.
Nie mehr werde ich auf diesem Weg mit Anja zur Straßenbahn gehen.
Aber vielleicht mit Marianne Skoog? Aus der Entfernung sieht man ihr Alter nicht, denke ich. Aus der Entfernung könnte man sie für Anja halten.
Aber sie ist nicht Anja. Es gibt keine Anja mehr.
Die Straßenbahn stoppt im Tunnel unter Valkyrien plass. Ich steige aus, wünsche dem Schaffner höflich eine gute Nacht. Ich bin noch nie vorher mit einer ganz leeren Straßenbahn gefahren. Ein gewaltiges Gefährt nur für mich.
Ich steige die Treppe hinauf zur Straße und denke an Selma Lynge und daß ich vielleicht nach Wien soll. Gibt es auch in Wien Straßenbahnen? Ich bin achtzehn Jahre alt und nie von Norwegen weg gewesen. Mein geographischer Radius beschränkt sich auf höchstens 300 km. Ich hatte immer Angst, zu verreisen. Das Unheil, das große Unheil, lauert in der Fremde. Aber das stimmt nicht. Das große Unheil lauert hier zu Hause.
Und trotzdem habe ich nicht den Wunsch, wegzugehen, bewege mich im Gegenteil zurück zu den Tatorten. Zum Wasserfall. Zu Anjas Haus.
Ein Ausspruch von Rebecca klingt plötzlich in meinem Kopf. Ging es nicht um Entscheidungen? Richtig entscheiden? Falsch entscheiden?
Benommen biege ich in die Straße mit dem ironischen Namen ein, wo meine Wohnung liegt. Sorgenfrigata. Die Straße frei von Trauer. In dieser Wohnung starb Synnestvedt. Er wollte nur mein Lehrer sein. Ich aber entschied mich für ein Monster. Und bekam zum Dank die Wohnung.
Ich schließe die Tür zu einer Wohnung auf, die ichdemnächst verlassen werde. Abgestandene Luft schlägt mir entgegen, obwohl ich seit meiner Rückkehr von den Ferien hier gelebt, geschlafen und gelüftet habe.
Da wird mir klar, daß ich von einem Tatort zum nächsten umziehe.
Wiedersehen mit Rebecca Frost
Ich habe die Wohnung im Aftenposten annonciert, und sie kommen wie die Ameisen, die neuen Studenten, klopfen an und wollen mieten. Aber es ist ihnen zu teuer und zu klein. Die wenigen Quadratmeter, die ich anzubieten habe, eignen sich nicht für eine Wohngemeinschaft. Junge Menschen, die sich zusammentun. Gutgläubige Seelen, die ihr Schicksal besiegeln. Aber ich brauche 1500 Kronen.
Da steht Rebecca vor der Tür. Es ist Nachmittag, sehr herbstlich, grelles Licht, Sonne und Wolken. Sie trägt ihre lächerliche grüne Jacke und teure Jeans. Aber das paßt zu ihren knallblauen Augen. Sie wirkt jünger als beim letztenmal, fröhlicher. Sie küßt mich auf die Wange, streift aber mit der Hand über meine Taille, als wolle sie mich an alles erinnern, was sie nicht vergessen hat. Ich schäme mich meiner Gedanken. Es ist ungeheuer, daß ich auch über Marianne Skoog solche Gedanken habe und nach wie vor über Anja, die tot ist. Etwas stimmt nicht mit mir. Eine ernste Persönlichkeitsspaltung. Vielleicht war es das, was Selma Lynge durchschaut hat.
»Was ist denn mit deinen Händen passiert?« fragt Rebecca erschrocken.
Ich schaue sie an, habe bis jetzt nicht darauf geachtet. Nun sehe ich, wie geschwollen sie sind. Die Blutstreifen von den Linealschlägen sehen entzündet aus.
»Ich bin gestürzt«, sage ich. »Gestern auf dem Heimweg von Selma Lynge. Ein umgefallener Lattenzaun.«
»Du Armer!«
»Geht schon wieder.«
»Geht es mit Selma Lynge auch?«
Ich nicke und brühe dabei in der Küche einen Kaffee auf. Ich sehe, daß sie sich genau in der Wohnung umsieht, jedes Detail in Augenschein nimmt. Endlich geht mir ein
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