Der Fluß
denn das?« sagt sie. »Du hast doch eine ausgezeichnete Wohnung in der Sorgenfrigata?«
»Die wird mir auf die Dauer zu teuer.«
»Wir könnten dir doch Geld leihen.«
»Vater hat sich ständig Geld geliehen. Und wohin hat das geführt!«
»Aber … bei Marianne Skoog «, sagt sie. »In das Haus des Schreckens?«
Ich schüttle den Kopf. »Sie hatte eine Annonce aufgegeben. Sie brauchte einen Untermieter. Rebecca Frost und ihr Verlobter brauchten eine Wohnung. Der Tausch war in wenigen Tagen abgewickelt. Ich habe nun die Einkünfte, die es mir ermöglichen, mich auf das Spielen zu konzentrieren. Das wolltest du doch? Außerdem steht mir Anjas phänomenaler Steinway zur Verfügung, und der ist zum Üben besser geeignet als Synnestvedts abgewrackter Blüthner.«
Ich präsentiere ihr alle die sonnenklare Argumente, denensie nicht widersprechen kann, obwohl sie immer einen Schwachpunkt findet:
»Aber die Stadt , Aksel, du brauchst die Stadt . Warum kehrst du in eine Gegend zurück, in der so viel Schlimmes passiert ist? Ich hatte gehofft, du würdest aus deinem Schneckenhaus kommen, wenn du in der Sorgenfrigata wohnst, würdest dich öfter in der Stadt zeigen, bei der Studentengemeinde mitmachen, in Konzerte gehen. Dann war das der Grund, warum du nicht zu Gilels Konzert in der Aula gekommen bist? Du hattest keine Lust, in die Stadt zu fahren?«
»Ganz so ist es nicht«, sage ich. »Aber ich hatte in diesen Wochen ein hartes Übungsprogramm. Außerdem haben Marianne Skoog und ich vieles zu bereden.«
»Du und Marianne Skoog?« Selma Lynge kehrt die Augen gen Himmel. »Was hast du denn mit ihr zu bereden?«
Sie schaut mich indigniert an, merkt nicht einmal, wie absurd das ist, was sie sagt. Sie hat ihr eigenes Bild von der Welt und regt sich schnell auf, wenn etwas nicht mit ihren Vorstellungen übereinstimmt.
»Sie ist Anjas Mutter «, sage ich vorsichtig.
Selma Lynge dreht die Augen wieder gen Himmel. »Die Mutter , ja!« sagt sie mit bereits geröteten Wangen. »Mit der du dich sicher beim Begräbnis ausgesprochen hast. Ich erinnere mich, gesehen zu haben, wie ihr euch unterhalten habt. War das nicht genug? Zwischen euch sind doch siebzehn Jahre. Sie gehört zu einer ganz anderen Generation, einem ganz anderen Milieu. Über was in aller Welt könnt ihr denn reden?!«
Es überrascht mich, wie genau sie den Altersunterschied zwischen uns kennt. »Darüber weißt du nun mal nicht Bescheid«, sage ich und kann die Wut nicht beherrschen, die in mir aufsteigt, denn sie ist unmöglich, ja fast abscheulich in ihrer belehrenden, allwissenden Rolle.
»Natürlich weiß ich darüber Bescheid«, schreit sie beinaheund knallt die Teetasse auf den Tisch, daß die Katze erschrickt. »Ich habe selbst drei Kinder. Ich weiß, in welchem Stadium des Lebens sie sich befinden. Ich weiß, wo du dich befindest. Und ich weiß das eine und andere über Marianne Skoog. Ich weiß, daß ihr überhaupt nichts miteinander zu bereden habt!«
»Was weißt du über Marianne Skoog?« sage ich, fast feindselig, und sie merkt, daß ich stärker bin als beim letztenmal. Das verwirrt sie und sie verliert die Kontrolle über ihre eigene Rhetorik. Sie überschreitet die Grenze, nicht die physische, aber die verbale. Und das ist noch gefährlicher.
»Ich weiß, daß sie für Anja eine schlechte Mutter war.«
»Wie kannst du so etwas behaupten?«
»Sie ist Ärztin. Und hat nicht einmal gesehen, daß sich ihre Tochter schier zu Tode gehungert hat.«
Diesmal verliere ich die Kontrolle. Das geht so schnell. Ich springe auf, renne durchs Zimmer, wie sie vor zwei Wochen, und schreie sie an:
»Aber du hast sie aufs Podium geschickt, in die sichere Niederlage!«
Sie hat jetzt Angst, schaut mich erschrocken an, weiß nicht, welchen Ton sie anschlagen soll. Sie beschließt, nicht zu schreien.
»Du redest darüber wie über eine Schlacht«, sagt sie ruhig. »Es war ein Schlacht«, sage ich. »Und du, Selma Lynge, warst der Feldherr. Sie, die Schwache, hast du als Vorposten eingesetzt.«
»Setz dich«, sagt sie bittend. Sie sieht, daß ich es nicht durchhalte, sie weiter anzubrüllen und böse auf sie zu sein. Auf raffinierte Art schafft sie es, mit vielsagenden Blicken und mit perfider Fürsorglichkeit, die Rollen umzudrehen, so daß nun ich als der Verrückte dastehe, der Unbeherrschte, der, der Hilfe braucht.
»Entschuldigung«, sage ich matt, gleichermaßen über siewie über mich selbst beschämt, weil ich zu wenig Rückgrat habe, um sie ein
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