Der Fluß
Pianist aus Chile kommt, um sich einen Flügel auszusuchen, wird die chilenische Flagge gehißt, kommt er aus Norwegen, die norwegische. Die angebotenen Kekse und der Kaffee sind mies, ebenso wie die Stereoanlage im Konferenzraum. Trotzdem sind ihre Instrumente unübertroffen. Warum ich mich für einen Bösendorfer entschieden habe, willst du vielleicht wissen? Vielleicht, weil er in einem kleinen Raum stand, vielleicht, weil ich österreichisches Blut in den Adern habe. Bei Bösendorfer stellen sie zuerst das Innere her, danach Stück für Stück das hölzerne Fachwerk. Bei Steinway läuft es anders. Die Zarge ist in einem Stück gebogen. Klopfst du auf das Gehäuse, hörst du, daß es lebt. Für große Räume bevorzuge ich den Steinway, für kleine den Bösendorfer. Eine endgültige Wahrheit gibt es nicht. Wenn ein Bösendorfer richtig gestimmt und gut gewartet ist, übertrifft er die meisten anderen Fabrikate wie Schiedmayer, Blüthner, Bechstein, Steinweg, Carl Mandt, Hoffmann, Schimmel. Über ganz Deutschland verteilt gab es die Instrumentenbauer, die über das Wissen verfügten, das man braucht, um einen Flügel zu bauen, ein Monster, einen großen Elefanten.
Eine so große Konstruktion liebt den Ortswechsel nicht. Warum muten dann einige der größten Pianisten der Welt das ihrem Instrument zu, wenn sie auf Welttournee gehen?Konzertflügel sind konservative Individuen, die die vertraute Umgebung lieben, das gewohnte Klima. Nur Knight baute Pianos für die Kolonien, konstruiert für extreme Feuchtigkeit und wechselnde Temperaturen.«
Sie schweift ab, denke ich und beobachte sie, diese schöne Frau, die für einige arme, gehorsame Schüler und ihren Mann, den Professor, für den Ästhetik kein Fachgebiet ist, die aufwendig und zugleich dezent geschminkte Schönheit spielt. Sie möchte ihre Welt ganz nach ihren Vorstellungen malen. Was für eine merkwürdige Persönlichkeit, denke ich. Sie hatte uns alle nacheinander im Griff: zuerst Rebecca, dann Anja, dann mich. Jetzt verliert sie sich in Erinnerungen.
»Du kannst einen guten Flügel, auf dem du gespielt hast, nicht vergessen«, fährt sie fort. »Ebensowenig wie einen Menschen, der Eindruck auf dich gemacht hat oder der dir zugehört hat, wenn du in einer schwierigen Lage warst. Und es ist schwierig, eigentlich ganz fürchterlich, ausübender Musiker zu sein. Das kann nur verstehen, wer selbst auf dem Podium war. Die Erwartungen des Publikums, als müßte man Abend für Abend ein Examen vor ständig neuen Jurys ablegen. Allein dort oben sitzen, allein mit den horrenden technischen Schwierigkeiten, mit der ›richtigen‹ musikalischen Aussage. Das Bewußtsein, daß einige Patzer, daß ein Moment der Unkonzentriertheit die Niederlage bedeuten, wie bei Anja, als sie mit der Philharmonie Ravel spielte und aus der Solopartie fiel. Ja, mein Lieber, ich habe von den Pianisten erzählt und wie sie auftreten. Aber hast du einmal ihren Abgang beobachtet, wenn sie sich verbeugen? Die Frauen haben nie Probleme. Sie benehmen sich natürlich. Martha Argerich ist wunderbar. Annie Fischer genauso. Sie nehmen den Applaus ohne Firlefanz entgegen. Sie haben sich sogar die menschliche Eigenschaft bewahrt, die man Scheu nennt. Aber die Männer? Erst, wenn siesich verbeugen, werden sie zu Pinguinen, obwohl sie schon den ganzen Abend diesen lächerlichen Frack tragen. Am schlimmsten sind die, die während der tiefen Verbeugung die Arme schwer nach unten hängen lassen, als würden sie sich auf eine Hinrichtung vorbereiten, als würden sie demütig ihr Haupt unters Fallbeil legen. Dann gibt es die, die kurz nach allen Seiten nicken, allergnädigst den Applaus des Publikums entgegennehmen, von vorneherein gekränkt, weil sie nicht auf den Schild gehoben werden. Absolut peinlich sind die, die sich selbst feiern. Die einen Applaus mimen, der nicht vorhanden ist. Die ihre eigene Leistung größer machen, als sie war. Die schelmische, dankbare Blicke ins Publikum werfen, gleichsam überwältigt von dessen Begeisterung. Die eine Zugabe spielen, ohne aufgefordert worden zu sein. Ja, mein Lieber, das sind die peinlichsten! Das darfst du nie machen. Das verbiete ich dir! Vom eigenen Einsatz berauscht, haben sie keine Hemmungen, kommen blitzschnell zurück auf das Podium, um weiterzuspielen und sich bis zum frühen Morgen zu exponieren. Ihr Leben wird nur durch den Applaus sinnvoll, sie wollen gesehen werden. Das ist eine Krankheit, verstehst du, und davon sind viele befallen. Ich habe
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