Der Fluß
einmal durch. Sie erkennt sofort, daß ich technisch Fortschritte gemacht habe. Und auch wenn das Technische nicht das ist, worauf sie Wert legt, wenn sie von Musik spricht, hat sie mir immer wieder eingehämmert, daß die technische Virtuosität eine Voraussetzung dafür ist, um heute in der Welt der klassischen Musik Erfolg zu haben.
Ich nehme die ausgewählten Klavierstücke in Angriff, serviere sie ihr sozusagen auf dem Tablett. Sie sitzt in ihrem Stuhl und nickt zustimmend, als ich fertig bin.
»Gar nicht schlecht«, sagt sie zufrieden. »Du hast dich erholt. Der vierte Finger der rechten Hand ist beträchtlich kräftiger geworden, und die None-Griffe sind zum Glück jetzt sicherer. Aber werde nicht überheblich. Es kann noch besser werden. Du hast fünf Etüden gespielt, und ich zählte drei Patzer. Das sind drei zuviel. Leider ist das wie im Sport. Die Anforderungen werden höher und höher. Und ich bezweifle, ob es immer im Dienste der Musik ist, daß es in diese Richtung läuft. Die alten Burschen wie Backhaus und später Rubinstein konnten sich einige Fehler erlauben, weil es damals allein um die musikalische Aussage ging. Das ist nicht mehr der Fall. Es geht um die Form. Mit dem Aufkommen der Moderne mußte auch die traditionell klassische Musik ein größeres Stilverständnis entwickeln. Verstehst du? Deshalb müssen wir da durch.«
Ich sitze auf dem Klavierhocker und nicke. Ich weiß, daß sie recht hat. In unserer Zeit sind drei Patzer zuviel.
»Ich werde mich bessern«, sage ich.
»Daran zweifle ich nicht«, sagt sie freundlich. »Und jetzt kannst du etwas aus unserem Repertoire spielen.«
Ich weiß nicht genau, was sie meint. Sie ist überraschend unstrukturiert, wenn es darum geht, was ich neben Chopin-Etüden üben soll. Die Werkauswahl erfolgt fast impulsivgegen Ende der Stunde, während sie durchs Zimmer schreitet und mich belehrt, nicht mehr von oben herab wie anfangs, aber mit demselben, absoluten Anspruch: Nur ihre eigene Stimme darf zu hören sein. Sie sagt dann zum Beispiel: »Ach ja, Brahms op. 119. Übe das bis zur nächsten Stunde!« Oder sie sagt kurz darauf, weil wir über Debussy sprechen: »Üb’ so schnell du kannst ›Pour le Piano.‹« Oder, wenn sie über Beethoven spricht: »Kannst du nicht bis zum nächsten Mal die Sonate in d-Moll einüben?« Alle diese Vorschläge wirken wie aus der Luft gegriffen. Sie sind wie ein Apropos zu dem, wovon sie gerade spricht. Jetzt bin ich jedenfalls bereit, Ravels »Sonatine« zu spielen, von der wir einmal sprachen, bevor wir uns für den Sommer trennten.
»Ja, spiel die!« sagt Selma Lynge begeistert.
Ich weiß nicht genau, warum Ravel so gut klappt. Die Sonatine ist nicht besonders schwer. Aber sie braucht Leichtigkeit. Und ich merke, jetzt habe ich diese Leichtigkeit. Und weil dieses Gefühl Sicherheit erzeugt, Nachdruck erzeugt, gelingt es mir auch, elegant und präzise im Vortrag zu sein. Mir gelingt es, den melodischen Sog im ersten Satz zu vermitteln, die transparente Melancholie im zweiten Satz und die horizontale Leichtigkeit im letzten Satz.
»Ausgezeichnet!« sagt Selma Lynge und erhebt sich enthusiastisch. »So ist es gut, Aksel. Den Impressionismus hast du jedenfalls verstanden. Komm und setz dich.«
Gehorsam setze ich mich auf den Stuhl, der immer für mich bereitsteht, trinke aus der Teetasse, in die sie den Darjeeling eingeschenkt hat.
Ich sehe ihr an, daß sie wirklich begeistert ist. Das Lineal liegt nicht mehr auf dem Tisch. Sie muß es weggeräumt haben.
»Demnach hast du dich in diesen Wochen mit etwas Vernünftigem befaßt«, stellt sie fest. »Natürlich kann manRavel besser spielen, mehr reflektiert, aber du hast den jugendlichen Ernst, und das ist gut. Es braucht nicht viel, und Ravels Tonkaskaden klingen schludrig. Das ist dir nicht passiert, vielleicht weil du so intensiv Chopin geübt hast. Aber da muß noch etwas anderes sein. Verrate mir das Geheimnis, mein Lieber.«
»Ich bin bei Marianne Skoog eingezogen«, sage ich.
Selma Lynge verschluckt sich am Tee. Sie hustet kräftig. Ich erhebe mich und klopfe ihr vorsichtig auf den Rücken, so wie es mir Mutter beigebracht hat. Die Katze blickt verdrossen auf und starrt uns feindselig an.
»Es genügt jetzt«, sagt sie, hat den Husten wieder unter Kontrolle und gibt mir ein deutliches Zeichen, mich wieder zu setzen.
Lange sitzt sie nur da und schaut mich an.
»Du hältst mich jetzt nicht zum Narren?« sagt sie endlich. Ich schüttle den Kopf.
»Warum
Weitere Kostenlose Bücher