Der Fluß
für allemal auf ihren Platz zu verweisen.
»Reden wir nicht mehr davon«, sagt sie. Und mir ist klar, daß sie nichts ahnt von einem Verhältnis zwischen Marianne Skoog und mir, daß wir miteinander schlafen, daß wir Wein trinken und nachts lange auf sind, daß wir auf unsere besondere Weise ein gemeinsames Leben führen.
»Anja Skoogs Flügel?« sagt sie, will mich besänftigen, spielt die Rolle der allwissenden Psychologin, braucht damit nicht mehr über Anjas Schicksal reden, was sehr unangenehm für sie werden würde. »Vielleicht ist es gut so, trotz allem. Das Instrument ist wichtig, wie du sagst. Wir dürfen nicht vergessen, ein Flügel kommt sterbend zur Welt, wie ein Mensch.« Sie lehnt sich im Stuhl zurück, schließt für einen Augenblick die Augen. Dann fährt sie, wieder ganz ruhig, fort: »Man glaubt, daß ein Flügel oder ein Piano etwas Großes und Robustes ist. Man übersieht, daß man etwas Zartes und Sensibles vor sich hat, das die geringste Wetterveränderung spürt, die Stimmung im Zimmer, Licht und Schatten. Ich denke oft daran, daß jedes einzelne Instrument eine genuine Persönlichkeit ist. Wenn ich am Morgen in dieses Zimmer komme und meinen geliebten Bösendorfer sehe, denke ich jedesmal: ›Ich habe dich in Wien gekauft, mein Freund. Stolz ziertest du den Ausstellungsraum im alten Gebäude für Konzertflügel beim Musikverein. Viele weltberühmte Pianisten berührten deine Elfenbeintasten und wollten dich haben. Michelangeli war besonders interessiert. Aber ich habe mich in dich verliebt und dein Schicksal besiegelt. Ich erkannte, daß du etwas ganz Besonderes bist. Ich wollte dich um mich haben, Tag für Tag. Deshalb brachte ich dich bis hierher in den kalten Norden.‹
Konzertflügel sind äußerst einsame Individuen. Sie sind wie mißgestaltete Vögel im Käfig. Fremde Menschen kommen, schauen sie an und spielen auf ihnen. Sie können nichtsdagegen machen. Ist das nicht seltsam? Ich erinnere mich an alle Flügel, auf denen ich gespielt habe. Jedesmal, wenn ich in einen neuen Konzertsaal kam, dachte ich als erstes: Wie ist der Flügel hier? Ich erinnere mich an sie wie an Freunde, einige davon waren schwierig und zurückhaltend, andere allzu großzügig und nachgiebig, wie Menschen mit einer übertriebenen und lästigen Höflichkeit. Einige waren arrogant und beherrschend bis zum letzten Ton und trotzdem gegen Ende des Konzertes von einer gewissen Anerkennung über meine Leistung. Es gab auch die undisziplinierten, wild wuchernden Exemplare, ohne einen verantwortungsvollen Stimmer, der sich um sie kümmerte. Aber gerade letztere, von denen es, das muß ich zugeben, viele gab, konnten eigene und liebenswürdige Qualitäten entwickeln. Eine Art von innerem Trotz, mit dem ich im Laufe des Konzertabends in einen Dialog treten mußte: ›Na, du hast ja ein teuflisches zweigestrichenes E, das eher schrill klingt? Was soll ich denn damit machen? Etwas behutsamer spielen, sagst du? In Ordnung.‹ Oder: ›Bist du wirklich so schüchtern? Verschließt du dich, sobald ich dich berühre? Hat dich ein ängstlicher Klavierstimmer zu sehr intoniert und seine Ängstlichkeit auf dich übertragen? Dabei bist du doch ein toller Steinway D und kannst klingen?‹ Und weißt du, Aksel, wenn ich so redete oder dachte, war es, als würde mich das Instrument verstehen, würde auf meine Wünsche eingehen, mir entgegenkommen. Du weißt, was ich dir über das Klavier erzählt habe. Es ist unvollkommen, sterblich, hat ein viel kürzeres Leben als die Geige, die ihre perfekte Form gefunden hat, die Hunderte von Jahren leben kann. Du solltest einmal zu einer Klavierfabrik fahren. In meiner Jugend, als ich überall gefeiert wurde, hatte ich eine Einladung von Steinway. Es war ein regelrechter Schock für mich, als ich die Klavierfabrik im Außenbezirk von Hamburg betrat. Ich hatte mir keine Gedanken gemacht, wasnötig war, um so ein Instrument zu bauen. Ich wußte nicht, daß es ein ganzes Jahr dauert und daß schon lange vorher die kanadische Fichte nach Europa gekommen ist, um zu trocknen. Ich wußte nicht, daß ein Flügel in verschiedenen Räumen gebaut werden muß, einer zur Behandlung des Holzes, einer für das Holzskelett, einer für die Saiten, für die Elfenbeintasten und die technischen Eingeweide, ein Raum für die Intonation und einer für die ästhetische Vollendung durch das Lackieren. Schließlich der Ausstellungsraum, wo die fertigen Instrumente stehen, alle Modelle von O bis D. Und wenn ein
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