Der Fluß
derartige Äußerlichkeiten verabscheut. Ich habe nur ausnahmsweise nach dem Konzert an Empfängen teilgenommen. Muß ich noch mehr über Friedrich Gulda oder Alfred Brendel erzählen? Am Ende stand in jedem Fall die Bewunderung oder, bei Glenn Gould, die üble Nachrede. Aber das ist jetzt vorbei. Ich werde nie mehr auf dem Podium stehen. Ich habe mein Leben gelebt. Und jetzt im nachhinein ist da natürlich ein Gefühl des Verlustes. Was mich aber tröstet ist, daß ich mit einer Reihe unentbehrlicher Gefährten gelebt habe, den Instrumenten.«
Sie schaut mich an, plötzlich hübsch wie ein kleines Mädchen. Ihre Persönlichkeitsverwandlung ist beinahe erschreckend.
»Daß du an einen Ort gezogen bist um eines Flügels willen, ist ein schöner Gedanke. Das gefällt mir. Vielleicht hast du doch die richtige Wahl getroffen. Ich bin einmal in dem Haus gewesen. Bror Skoog hatte ästhetisches Gewicht. Ich weiß nicht, ob das auch für Marianne gilt, aber sie verfügt jedenfalls über eine Perle von einem Instrument. Läßt sie immer noch Nielsen und Jacobsen die Stimm- und Wartungsarbeiten ausführen?«
»Ja.«
»Gut. Dann kann ich deine Entscheidung fast verstehen. Und Marianne Skoog ist so beschäftigt mit ihrem radikalen Engagement als Ärztin, daß du das Haus die meiste Zeit für dich hast?«
»Das ist richtig.«
Sie nickt langsam. Versucht, die schockierende Neuigkeit zu verdauen, versucht sie zu etwas Ungefährlichem zu machen, etwas, das sie kontrollieren kann, als Teil des Paktes zwischen uns. »Die Aussicht ist auch schön«, sagt sie. »Die grünen Bäume vor dem Panoramafenster wirken sicher beruhigend auf dich, nicht wahr?«
Ich nicke.
Sie mustert mich. Überlegt. Wie kann sie auch dieses Territorium von mir erobern?
»Wir müssen uns kennenlernen«, sagt sie schließlich. »Marianne Skoog ist gerade jetzt eine wichtige Person in deinem Leben. Außerdem habe ich noch etwas mit ihr zu klären. Ihr müßt zum Essen kommen, ihr beide. Hierher. Zu Torfinn und mir. Du warst sowieso noch nie bei uns eingeladen. Sagen wir nächste Woche Donnerstag?«
Rendezvous im Erlengebüsch
Ich taumele die Uferböschung hinunter zum Fluß, springe über die Steine, werfe einen Blick nach links und schicke Mutter einen Gedanken,erreiche die andere Seite und nehme den Steig hinauf zum Elvefaret: Obwohl ich mir so deutlich klargemacht habe, daß es damit vorbei ist, kann ich einfach nicht am Erlengebüsch vorbeigehen.
Aber als ich zwischen die Zweige und die gelben Blätter schlüpfe und glaube, allein zu sein, sitzt Marianne Skoog auf meinem Baumstumpf und erwartet mich.
»Na, wie war es?« fragt sie mit einem fröhlichen Lachen. »Du? Hier?« sage ich und merke, wie mir ganz schwindlig wird vor den Augen. Mir ist, als würde ich das Gleichgewicht verlieren.
»Hast du nicht immer hier gesessen?« sagt sie und sitzt vor mir, fast ohne Make-up, in dem grünen, herbstlichen Dufflecoat, den Anja immer anhatte, und ausgewaschenen Jeans.
Ich lasse alles fallen und ziehe sie zu mir hoch, umarme sie, wühle in ihrem Haar, halte sie von mir weg, blicke ihr in die Augen und bin überwältigt von Gefühlen.
»Wie hast du hierhergefunden?« frage ich.
Sie antwortet nicht sofort. Sie küßt mich ruhig, bestimmt, fordernd.
»Ich weiß von dir und deinem Versteck schon seit Jahren«, sagt sie.
»Wie hast du davon erfahren?« frage ich, puterrot.
»Damals mit Anja«, sagt sie. »Als du sie in Panik versetzt hast. Als Bror seine Heimwehr sammelte und mit Taschenlampen nach möglichen Feinden suchte. Ich saß mit Anja zu Hause im Wohnzimmer. Wir wußten beide, daß du es warst. Daß sie an dir vorbeigegangen war. Daß sie sich erschrocken hatte. Daß sie gewußt hat, daß du es warst. Anja war so süß damals. ›Sie dürfen ihn nicht finden!‹ sagte sie. Sie wußte ja, daß du zwischen den Bäumen ein Versteck hattest. Aber sie wußte nicht, daß du dort auch im Dunkeln sitzt.«
»Wußte sie das wirklich die ganze Zeit? Aber wie hat sie es erfahren?« frage ich. »Das war doch mein heimliches Versteck!«
Marianne Skoog lacht. Dann streicht sie mir übers Haar, küßt mich rasch auf die Wange. »Hier hast du noch Lernbedarf, junger Mann. Wenn Leute meinen, sie hätten große Geheimnisse oder unentdeckte Liebesaffären, sind sie erstaunlich leicht zu durchschauen.«
»Du wußtest also, daß ich hier sitze, als du vor einigen Wochen nach mir riefst?«
»Natürlich. Warum hast du nicht geantwortet?«
»Weil ich gelernt habe,
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