Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
Vom Netzwerk:
Mutter ihren Kopf zerschmetterte, ich habe das Bedürfnis zu spielen, ich sei trotz allem noch ein Kind. Viele haben schon gesagt, ich sei früh erwachsen geworden. Aber was bedeutet das, erwachsen sein? Bedeutet es nicht in erster Linie, die Kontrolle über sich selbst zu haben? So gesehen: War Selma Lynge erwachsen, als sie mir mit dem Lineal auf die Finger und auf den Rücken schlug? War Richard Sperring erwachsen, als er sein Segelboot kentern ließ? War Bror Skoog erwachsen, als er sich mit einer Schrotflinte das Hirn wegpustete? War Mutter erwachsen, als sie sich vor Ärger derart betrank, daß sie nicht imstande war, sich in der reißenden Strömung am Zigeunerfelsen festzuhalten?
    Dann erreiche ich das andere Ufer, habe einen steilen Aufstieg vor mir. Hier ist niemand unterwegs. Hier ist ein Urwald. Ich habe die Noten unter dem Arm und fühle mich wie ein Mensch früherer Zeiten, ein Ziegenhirt in den Alpen. Ich bezwinge die Natur, um zu meiner Lehrerin im Leben zu finden oder zurück zu ihr. Sie kann mir helfen, die Kontrolle über mich zu erlangen, kann mich zum selbstgewählten Ziel führen. Sie, bei der der Begriff Kultur konkret wird. Sie, die in der Kunst einen Lebenssinn gefunden hat. Den, den Carson McCullers nicht fand. Den, den auch Marianne Skoog gerne finden möchte.

    Ich stehe vor dem dunklen Haus im hellen, kalten Sonnenschein und bin angespannt. Zwei Wochen seit dem letztenmal und mein ganzes Leben ist verändert. Wie soll ich ihr das beibringen?
    Torfinn Lynge öffnet die Tür. Abstehende Haare, der übliche Schaum in den Mundwinkeln.
    »Du?« sagt er verwundert und starrt mich an.
    »Ja, ich«, sage ich. »Komme ich ungelegen?«
    »Niemals«, sagt Torfinn Lynge und läßt mich herein. »Ich habe nur meine Gedanken ganz woanders. Ich befinde mich zur Zeit in einer spannenden Auseinandersetzung mit Peter Wessel Zapffe. Er geht mit einigen an der Psychoanalyse orientierten Autoren scharf ins Gericht, die vehement die Auffassung vertreten, daß man Pessimismus als neurotisches Bedürfnis erklären kann. Siehst du das auch so?«
    »Ich bin mir nicht sicher«, sage ich
    »Gut. Hier äußert auch Zapffe Zweifel in seiner Abhandlung ›Über das Tragische‹. Warum kann die Neurose nicht die Ursache dafür sein, daß der Patient aufgrund seines hochdifferenzierten Nervensystems und seiner traumatischen Erlebnisse einen tieferen sachlichen Einblick in die Umstände menschlichen Lebens bekommen hat, sowohl partiell wie metaphysisch betrachtet?«
    Ich denke an das Gespräch, das ich eben mit Marianne Skoog über Selbstaufgabe gehabt habe, und verspüre sofort einen schmerzhaften Stich im Magen.
    »Daß die Depression eine gesunde Reaktion ist, oder?« sage ich.
    »Gewissermaßen«, sagt Torfinn Lynge mit einem fragenden Blick auf mich. »Wie ist es dir beim letztenmal ergangen?« sagt er. »War Selma böse mit dir?«
    »Ich bekam, was ich verdiente«, murmle ich.
    »Geh nur hinein zu ihr. Sie wartet sicher auf dich«, sagt er.

    Sie thront wie gewöhnlich auf ihrem Stuhl, sorgfältigst geschminkt, eine Miniaturmalerei der Meisterklasse. Die Katze auf ihrem Platz in der Ecke. Auch wenn Selma Lynge nicht halbnackt auf ihrem Bett liegt, mit einer Hand auf ihrer Scham, muß ich doch irgendwie an Edouard Manets »Olympia« denken. Der Kopf ist es. Die zugleich stolze und frivole Pose. Und mein Part ist dann die des Mohren, der mit dem Blumenstrauß dasteht, bereit, ihrem leisesten Winkzu gehorchen, was immer es sein sollte. Nun ja, denke ich. Hier dreht es sich nur darum, den Befehl zu erwarten.
    »Na Junge«, sagt sie, anders als Marianne Skoog, die »mein Junge« sagt. »Wie nett, dich wiederzusehen.« Sie steht nicht auf, bedeutet mir aber, mich auf den anderen Stuhl zu setzen. Der Beginn dieser Unterrichtsstunden ist jedesmal die strenge Einhaltung der Form. Vielleicht macht sie das ganz bewußt, denke ich, um meine Nerven zu trainieren, sozusagen als Vorgeschmack auf die nervliche Anspannung, die ich auszuhalten habe, wenn ich später allein hinaus auf das Podium gehe.
    »Wie ist es dir seit dem letztenmal gegangen?« sagt sie.
    »Da ist so einiges passiert«, sage ich ehrlich. Am besten den Stier bei den Hörnern packen.
    »Das dachte ich mir«, sagt sie, »als ich dich nicht beim Gilels-Konzert sah.«
    Herrgott, denke ich, verzweifelt über mich selbst. Wie konnte ich das vergessen? Emil Gilels. Ein Pianist auf höchstem Niveau, von denen es nur eine Handvoll gibt. Richtig, er spielte ja vor zwei

Weitere Kostenlose Bücher