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Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
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Tagen in der Aula. Wo war ich da? Auf der Couch bei Marianne Skoog, denke ich. Wir hörten uns Joni Mitchell an. Wir redeten über etwas, das uns beschäftigte. Das kann ich unmöglich Selma Lynge erzählen.
    Aber sie kommt mir entgegen. Sie sieht an meinem Gesichtsausdruck, daß ich mich anstrenge, etwas zu erfinden.
    »Du brauchst nichts zu erklären«, sagt sie. »Noch nicht. Das stört die Gedanken vor der Musik, all dieses Reden über Privates. Jeder von uns kommt schließlich aus einem Privatleben. Du kannst das sogar beobachten, wenn die Pianisten auf das Podium kommen. Wo kommen sie her? Ja, jeder von ihnen kommt aus seinem Leben , Aksel. Sieh dir den ängstlichen, hypochondrischen Gang von Swjatoslaw Richter an. Als rechne er damit, daß ihn die Agenten des KGB bis auf die Bühne verfolgen. Oder AlfredBrendel, der aussieht, als hätte er sich eben nach einem herrlichen Essen am Wasserhahn die Hände gewaschen und wolle sich hinlegen. Hast du Daniel Barenboim gesehen? Er geht, als würde er den Konzertsaal mit einer Kathedrale verwechseln, in der er der Bischof persönlich ist. Und was ist mit Martha Argerich, meiner Favoritin? Sie kommt auf das Podium mit einer inneren Kraft, als wollte sie Löwen zähmen. Dann ist da Wilhelm Kempff. Er wirkt etwas zu blutarm und humanistisch, hat etwas Albert-Schweitzer-Artiges, das zu seinem Aussehen paßt, aber nicht zu seiner Persönlichkeit. Und was ist mit Horowitz? Er geht, als ob er, egal wann, direkt aus dem Nervensanatorium kommen würde, wo er sich übrigens für den König von Spanien hält. Claudio Arrau? Er betritt das Podium mit Branntweinsucht und dem Geruch einer Zigarre. Man könnte ihn, bevor er in die Musik einsteigt, verdächtigen, daß er an die Mahlzeit denkt, die er nach dem Konzert essen möchte, große, südamerikanische T-bone-Steaks. Danach vergißt der Zuschauer natürlich solche Gedanken. Michelangeli? Etwas zu verliebt in sich und in seine Penne al’ arrabiata, seinen Wein aus dem Piemont und all die Mythen, die sich inzwischen um ihn ranken. Mein Freund Maurizio Pollini? Er sieht aus, als sei er ein Bote mit einer äußerst wichtigen Nachricht für die Herzogin von Neapel, und er genießt die Erwartung der Zuhörer in vollen Zügen, in dem Wissen, daß die Aufmerksamkeit kurzzeitig ist. Glenn Gould? Der Arme, der sich schon vor sechs Jahren zurückgezogen hat. Weißt du übrigens, daß das letzte, was er öffentlich spielte, Beethovens op. 109 war? Das Werk, das garantiert niemals als Rebecca-Frost-Sonate in die Musikgeschichte eingehen wird. Der Vorgänger von op. 110, den du spielen wirst. Ja, wie glauben wir, hat Glenn Gould die Bühne betreten? Als käme er direkt aus dem Erziehungsheim, soweit ich mich erinnere. Als glaubte er, einen Aufpasser zu haben. Als würdeer, wenn er aufrecht steht, am liebsten wieder mit überkreuzten Beinen sitzen. Gibt es noch mehr? Ja, es gibt noch viele. Aber wollen wir sie nennen? Nein, das wollen wir nicht. Und jetzt spiele für mich, Aksel.«

    Selma Lynge hat sich in einen rhetorischen Rauschzustand hineingesteigert. Ich habe dagesessen und sie angeschaut, mit ihr gelacht, mit ihr genickt, mit ihr den Kopf geschüttelt und gedacht, daß es zwei Typen von Menschen gibt: Die, die den Ton ihrer eigenen Stimme lieben, und die, die ihn hassen. Selma Lynge gehört zur ersten Gruppe. Selma Lynge ist davon überzeugt, daß sie der Welt etwas Sinnvolles mitzuteilen hat. Habe ich jemals ihren Zweifel erlebt? denke ich. Ja, vielleicht voriges Mal in diesem Zimmer, als ich aus meiner Ohnmacht erwachte und sie jammernd über mir stand: Obwohl, war das Zweifel ? Nein, gezweifelt hat sie nur an der Kommunikation zwischen uns, als die Worte nicht mehr genügten, als das Lineal eingesetzt werden mußte.
    Und trotzdem bin ich nicht böse auf sie, denke ich. In diesem Zimmer nehme ich fast automatisch eine hündische Haltung ein. Jetzt hat sie mir eine Lektion über das Auftreten von Pianisten erteilt. Sie hatte damit eine Absicht. Deshalb wage ich auf dem Weg zum Flügel die Frage:
    »Und wie sollte ich aussehen, wenn ich auf das Podium gehe?«
    Sie starrt mich an, mustert mich ohne Andeutung eines Lächelns in den Mundwinkeln:
    »Das kommt darauf an, wer du bist. Das kommt darauf an, was du spielst.«
    Jetzt hat sie mich. Ich setze mich gehorsam an den Flügel und bin wieder völlig in ihrer Welt.
Vorpostengefechte
    Zu meiner eigenen Überraschung spiele ich gut. Wir gehen die vertracktesten Etüden von Chopin noch

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