Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fluß

Der Fluß

Titel: Der Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ketil Bjørnstad
Vom Netzwerk:
etwas, das noch nicht geschrieben ist«, sagt er. »Außerdem ist das ein Traum. Wenn du in wachem Zustand am Flügel sitzt, wird es deine eigene Musik sein, die du spielst.«
    »Meine eigene Musik?«
    »Ja, hast du nie daran gedacht? Daß du jederzeit selbst Zusammensetzung und Reihenfolge der Töne bestimmen kannst?«
    »Nein«, sage ich. »Das habe ich nicht. Die Musik, die bereits geschrieben ist, genügt mir vollauf.«
    »Bist du dir da sicher?« sagt er und lächelt verschmitzt. »Ich hatte das auch geglaubt. Wenn man Bach, Mozart, Haydn und Beethoven hatte, was sollte man dann mit Schubert, dachte ich. Die Welt wird weitergehen, auch ohne Schubert. Ich konnte nach wie vor Interpret bleiben. Ich spielte schließlich Geige, Orgel und Klavier. Ich weiß noch, wie ich mit meinem Jugendfreund, Joseph von Spaun, beisammensaß. Er war zwar sieben Jahre älter als ich, aber ich fühlte mich auf seltsame Weise zu ihm hingezogen, so wie du dich zu Marianne Skoog hingezogen fühlst. Alter hat niemals eine Bedeutung gehabt.«
    »Aber ihr habt ja so wahnsinnig früh angefangen«, sage ich. »Viel früher als wir.«
    »Es lag an der Zeit, daß Kinder schnell erwachsen werden mußten. Mit all den Kriegen, die damals in Europa waren, ging ein kolossaler Verschleiß von Menschen einher. Man hatte schlichtweg keine Zeit, Kind zu sein. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich eigentlich zu komponieren anfing, aber ich war jedenfalls ein Kind, und als Joseph von Spaun, mein ritterlicher Freund, der mir später helfen sollte, indem er mir heimlich Notenpapier besorgte, hörte, daß ich mich mit einer schwierigen Sonate von Mozart quälte, fragte ermich: ›Kannst du nicht statt dessen etwas spielen, was du selbst geschrieben hast?‹ Ich erinnere mich, daß ich vor Scham errötete, aber ich spielte ein Menuett für ihn, und als ich dann anfing, meine eigene Musik für andere zu spielen, gab es kein Halten mehr.«
    »Aber du sagtest doch, daß der Winter dann allen Ernstes zu mir kommt, wenn ich selbst Reihenfolge und Zusammensetzung der Noten bestimme?«
    »Der Winter ist ein nicht ganz präzises Wort. Nenne es lieber Schmerz. Ich beobachte dich seit einiger Zeit und glaube, du hältst ihn aus. Aber du mußt es wollen.«
    »Du sagst das Gegenteil von Rebecca Frost«, sage ich.
    »Was sagt sie?«
    »Daß ich das Glück suchen soll.«
    »Ihre Wahl«, sagt Schubert.
    »Kann Glück denn nicht Kunst hervorbringen?«
    »Komischerweise nur in Ausnahmefällen. Haydn war wohl relativ glücklich, und auch wenn Bach seine Probleme hatte und gezwungen war, unheimlich viel zu arbeiten, lief es ganz gut. Aber all die andern? Nimm den verrückten Schumann, den liebeskranken Brahms, den hart getroffenen Beethoven, der sich weigerte, sein Schicksal anzunehmen, und sich mit seiner unheimlichen Sturheit wieder aufrichtete. Mozart hatte sicher seine glücklichen Momente, aber es war ein verzweifeltes Glück, wie wir es sonst nur im Rausch, im Alkohol, im Opiumrauch finden. Noch schlimmer wird es, wenn du zu den Schriftstellern gehst. Dort herrscht ja genaugenommen das pure Elend. Vielleicht, weil ein Schriftsteller kein Handwerk können muß. Schreiben ist ja kein Handwerk, es ist eine allgemeine Voraussetzung. Ein Komponist dagegen muß, wenn er nicht einer seltsamen Abart des Phänomens angehört, ein Handwerk können, muß eine Geige handhaben, muß einem Klavier Töne entlocken können, muß ein Instrument spielen. Daserzeugt vielleicht eine Art von psychischer Stabilität, jedenfalls bei einigen.«
    »Dann ist all deine Musik ohne Glück zustande gekommen?«
    Schubert nickt. »Ja. Aber das Glück schenkt man schließlich anderen. Das ist der Punkt. Was soll man mit eigenem Glück? In einem tollen Haus oben in Fiesole sitzen, Wein trinken und die Kuppel der Domkirche von Florenz sehen? Was ist Glück für eine Idee? In diesem Teil der Welt ist Glück gleichbedeutend mit dem sogenannten guten Leben. Aber was ist das gute Leben? Nur der Genuß?«
    »Wenn ich demnach deiner Musik zuhöre und Glück empfinde, höre ich immer deinen Schmerz, dein Unglück?«
    »Ja«, sagt Schubert. »Aber das Glück gibt es auch im Denken, im Wollen und in der Überlieferung. Daß das Leben, das man lebt, einen Sinn hat. Den kann man weit außerhalb der Welt der Kunst finden, beim Bauern, beim Lehrer, beim gewissenhaften Kaufmann, eigentlich in allen Berufen dieser Welt, abgesehen vom Henker. Solange du eine Wahl getroffen hast und ein Mensch der guten Taten bist, lebst

Weitere Kostenlose Bücher