Der Fluß
daß es wichtig ist, sich Geheimnisse zu bewahren.«
Wir küssen uns, während wir reden. Um uns der rauhe Geruch nach Herbst und Schatten. Ich bin so froh, wieder bei ihr zu sein. Selma Lynge darf nie in diese Welt eindringen, die nur uns beiden gehört.
»Das ist mir so peinlich«, sage ich, »weil ich doch hier so oft saß.«
Sie blickt mir tief in die Augen. »Weißt du«, sagt sie, »ich finde junge Männer, die in Erlengebüschen sitzen und grübeln, erregend. Und jetzt bin ich hier und klopfe an deine Stirn. Hallo? Ist jemand zu Hause? Hast du genügend Phantasie, aus dieser Situation etwas zu machen?«
»Aber hier ist doch kein Bett!« sage ich lachend.
»Hast du nicht zwei kräftige Beine!« sagt sie ernst. Sie packt mich an den Hüften und bohrt mir ihre Nägel in den Rücken.
Winterreise
»Und wie lief es nun bei Selma Lynge«, sagt sie hinterher, als wir wieder im Haus sind.
Wir sitzen auf der Couch und spielen Joni Mitchell. »Ladies of the Canyon«.
»Es ist gut gelaufen«, sage ich und sehe an ihrem Gesicht, an dem flackernden Blick, daß etwas nicht stimmt.
»Aber was hat sie gesagt?« sagt sie und blickt ins Leere.
»Sie sagte, daß sie mit mir zufrieden ist. Daß ich Fortschritte gemacht habe, obwohl ich nur die verdammten Etüden und eine Sonatine von Ravel spielte.«
»Die hat Anja auch geübt.«
»Außerdem hat sie uns zum Essen eingeladen«, sage ich.
» Uns? « sagt sie erschrocken und schielt zu mir herüber.
»Sie weiß ja, daß wir zusammen wohnen«, sage ich.
»Das weiß sie?!«
»Ja«, sage ich mit dem Gefühl, eine Wahl getroffen zu haben, dem Gefühl, für jemanden in den Tod zu gehen. »Nächste Woche Donnerstag. Kannst du? Willst du?«
»Ja«, sagt sie.
»Sie meint es sicher gut«, sage ich.
Marianne Skoog nickt abwesend.
Dann gehen wir nach oben.
»Vergib mir«, sagt sie, »aber ich bleibe heute nacht in meinem Zimmer. Ich habe in den letzten Nächten schlecht geschlafen. Ist das okay?«
»Natürlich ist das okay«, sage ich.
Sie tätschelt mir kurz die Wange.
»Außerdem haben wir heute ja schon miteinander gespielt.«
Sie duscht vor mir.
Ich bleibe im Wohnzimmer sitzen. Das ist noch nie passiert. Jetzt geht sie in ihr Schlafzimmer. Jetzt ist sie müde. Jetzt sitze ich im Corbusier und kann Platten spielen, wenn ich will. Aber ich tue es nicht. Ich bin unruhig. Etwas stimmt nicht. Aber was? Ich starre zur Fensterfront, in die Herbstnacht, in all die Schwärze.
Bezeichnet sie wirklich das, was wir machen, wenn wir uns lieben, als Spiel ? denke ich.
Dann gehe ich hinauf in mein Zimmer. Müde. Vielleicht ein bißchen enttäuscht darüber, daß ich sie nicht spüren werde. Daß sie ihr Schlafzimmer wieder bezieht, ein Revier markiert. Ich habe keine Reviere mehr, denke ich.
Als ich höre, daß sie im Bad fertig ist, öffne ich die Tür. Es ist jedesmal spannend, das Bad nach ihr zu übernehmen. Ich rieche sie. Ich denke an sie. Ich will immer mehr von ihr.
Aber das geht nicht. Nicht heute nacht. Sie hat raffinierte Türen, die sie schließen und öffnen kann, die knallen und quietschen können. Die Türen der Marianne Skoog. Sie bestimmen, ob ich draußen bin oder drinnen.
Ich lege mich ins Bett. Todmüde. Der Schlaf kommt schnell. Da kommt auch Schubert. Er sitzt auf meiner Bettkante. Ein kleiner, treuer Freund. Für mich ist er nicht länger das Genie. Für mich ist er ein Zechkumpan. Ja, denke ich, mit ihm könnte ich ohne weiteres in die Kneipe gehen.
Aber er will lieber an meinem Bett sitzen und reden. Ich bin einverstanden, richte mich auf, schiebe mir ein Kissen in den Rücken. Jetzt kann ich ihn sehen. Er sieht traurig aus, sabbert und stinkt mehr als sonst. Auch das Ekzem ist seit seinem letzten Besuch bei mir bedeutend schlimmer geworden. Er ist immer noch ein junger Mann, denke ich. Enttäuscht in der Liebe, auf Seelenwanderung durch eine traurige Winterlandschaft. Vielleicht sind deshalb die letzten Lieder, die er vor seinem Tod vertonte, so traurig. Schubert liest meine Gedanken.
»Denkst du an die ›Winterreise‹?« sagt er.
»Ja«, sage ich. »Es sieht fast so aus, als sei der Winter nun allen Ernstes zu dir gekommen.«
Er nickt.
»Das ist eine Erfahrung, die du noch machen wirst«, sagt er, »wenn du die Stücke, die ich noch nicht geschrieben habe, einübst. Warum tust du das nicht?«
»Aber ich habe doch keine Noten!« sage ich verärgert. Er verwirrt mich mit seiner Nörgelei.
»Du kannst schließlich keine Noten haben von
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