Der Fotograf
und dachte: Sei kein verdammter Idiot. Keine Spekulationen. Keine wilden Hypothesen. Keine haltlosen Vermutungen.
Vielleicht sagte sie ja die Wahrheit: ein unverzichtbarer Zeuge, so hatte sie sich ausgedrückt.
Er stellte sich noch einmal die Augen der Ermittlerin vor. Keine Chance, dachte er.
Er sackte schwer auf seinen Schreibtischstuhl und drehte sich mit dem Sitz zum Fenster. Er sah, wie die Sonne durch die hohen Bäume des Anstaltsparks blitzte und ein Schattenmuster auf die gepflegten Rasenflächen warf. Das Gelände erweckteden Anschein eines Campus, als könnte das den wahren Zweck der Institution überspielen. Er sah zu, wie in der Ferne ein Mann mit einem Rasentraktor über die grüne Fläche fuhr. Er dachte an den herrlichen Duft von frisch gemähtem Gras. Das Nette an staatlichen Heilanstalten war ihr nach außen hin gepflegter Zustand. Nur innen sah man, dass sich – wie durch die Ausdünstungen des Wahns – die Farbe von den Wänden pellte. Bei den Menschen war es genauso.
Er kehrte dem Fenster den Rücken und fragte sich: Wieso nimmst du sofort das Schlimmste über deinen Bruder an? Die Antwort, die er auf die Frage fand, war gänzlich unwissenschaftlich. Weil er mir Angst macht. Schon immer. Er war schon immer wundervoll und erschreckend zugleich.
Was hat er getan?
Jeffers schüttelte den Gedanken ab. »Na schön«, sagte er laut. »Sehen wir mal, was sich machen lässt.«
Er nahm das Telefon und rief die diensthabenden Schwestern auf den verschiedenen Stockwerken an. Bei jeder sagte er die Nachmittagstermine mit Patienten ab und wies sie an, zu den betroffenen Männern zu gehen, um ihnen zu erklären, dass er wegen einer dringenden Privatangelegenheit verhindert sei. Er wünschte sich, ihm wäre auf die Schnelle etwas Besseres eingefallen, denn so heizte er auf der Station natürlich die Gerüchteküche an. Er zuckte die Achseln. Dann schlüpfte er aus seinem weißen Arztkittel und schnappte sich sein beiges Sportjackett, das an der Tür am Haken hing.
Martin Jeffers schloss sein Büro ab und eilte über eine Hintertreppe zum Ärzteparkplatz.
Detective Mercedes Barren schaltete die Klimaanlage ihres Leihwagens so hoch, wie es ging, und sah auf die Uhr. Das hier ist keine echte Observierung, dachte sie irritiert. Sieblickte zum Haupteingang der Anstalt. Und selbst wenn er da herauskam, was nützte es ihr, wenn sie ihm folgte? Sie beantwortete die Frage selbst: Probieren geht über Studieren. Sie wartete, rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her, um nicht direkt in der gleißenden Sonne zu sitzen, die durch die Windschutzscheibe brannte. Sie sah zu der Reihe abgestellter Autos auf dem Ärzteparkplatz hinüber, der deutlich mit einem Schild gekennzeichnet war. Es war kein Cadillac darunter, was etwas über den Unterschied zwischen Privatkliniken und staatlichen Einrichtungen sagte.
Sie war mit dem Verlauf des morgendlichen Treffens nicht ganz und gar unzufrieden. Ihre größte Sorge war eigentlich, dass der Arzt in Panik geraten und versuchen könnte, den Fotografen-Bruder anzurufen. Doch das würde wohl eher nicht geschehen. Bestimmt würde er bis nach ihrer Verabredung warten. Er würde den spröden kleinen Bruder geben, schätzte sie. Er musste sich seiner Sache sicherer sein, bevor er was unternahm.
Sie schloss die Augen und merkte, dass Schweiß auf ihre Oberlippe trat. Der feuchte Salzgeschmack erinnerte sie an unbeschwerte Sommertage.
Sie überlegte, wie oft sie und John Barren nur wenige Kilometer von der Nervenheilanstalt Trenton entfernt entlanggefahren waren. Oft, dachte sie. Es war seltsam, so nahe an ihrer Heimat zu sein. Sie erinnerte sich, wie sie auf dem Weg zu einem Spiel oder einer Party den Delaware entlanggefahren war und sich, umringt von ihren Freunden, unbeschwert in Johns Arme geschmiegt hatte.
Die angenehme Erinnerung verdunstete in der Mittagssonne. Jetzt bin ich allein, dachte sie.
Du musst dich schon selbst trösten. Sie stählte sich innerlich und verzog keine Miene, während sie durch die gleißende
Sonne starrte, die die Windschutzscheibe unerbittlich erhitzte.
Mit einem Ruck richtete sie sich auf. Sie sah, wie der Bruder des Mörders eilig zu seinem Wagen lief. Dachte ich’s mir doch, der hat was vor.
Sie wartete, bis er hinter dem Lenkrad saß, den Motor anließ und vom Parkplatz rollte. Sie unterdrückte den Wunsch, schnell hinterherzupreschen und sich wie eine Klette an ihn zu hängen. Stattdessen ließ sie sich Zeit und startete erst, als er
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