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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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billigen braunen Anzug. Sie musste unwillkürlich an Willy Loman aus Arthur Millers
Tod eines Handlungsreisenden
denken, als sie merkte, dass er tatsächlich Handelsvertreter war. Er verschlang sie mit Blicken, während er eine Vierteldollarmünze in den Automaten warf. Sie sah zu, wie er drei Flaschen Orangenlimonade kaufte, und registrierte, dass er eine Flasche Wodka in der Tasche hatte. Sie wand sich unter den eindeutigen, schamlosen Blicken des Mannes. Jeffers fauchte ihn an wie ein Tier, das den Eingang zu seiner Höhle bewacht, und der Mann schlurfte mit seinen Getränkedosen, dem Schnaps und der Aussicht auf dumpfes Vergessen davon. Jeffers hatte gesagt: »Kein Grund, den Kerl umzubringen, es sei denn, man wäre ein mieser kleiner Ganove auf der Jagd nach fünfzig Dollar. Was er trinkt, bringt ihn genauso sicher ins Grab wie eine Kugel, nur nicht ganz so schnell.«
    Nachts im Bett schlief sie, wenn überhaupt, unruhig und warf sich, soweit sie es wagte, im Bett hin und her, während sie die meiste Zeit steif dalag und auf seinen gleichmäßigen Atem horchte, auch wenn sie nicht glaubte, dass er schlief. Er schläft nie, dachte sie. Er ist immer wach und auf der Lauer. Selbst wenn er einen Schnarcher von sich gab, weigerte sie sich, anseinen Schlaf zu glauben. Wenn sie auf seine Geräusche horchte, versuchte sie, vollkommen still zu bleiben, als könnte ihn selbst der Hauch ihres Atems wecken. Bei diesen Gelegenheiten hatte sie das Gefühl, an keiner Regung ihres eigenen Körpers ablesen zu können, ob er noch funktionierte. In regelmäßigen Abständen legte sie sich die Hand auf die Brust, um ihren Herzschlag zu spüren. Er schien schwach, undeutlich, als sei sie dem Tode nahe – lebensbedrohlich geschwächt.
    Seit der Ermordung des Obdachlosen wurde ihr bewusst, dass sie vor allem und jedem Angst empfand: vor Fremden, vor Jeffers, vor sich selbst, vor jeder Minute bei Tage, vor jeder Sekunde bei Nacht; davor, was passieren konnte, wenn sie wach war, oder dann, wenn sie schlief. Wenn sie dann doch endlich eindöste, quälten sie Alpträume; sie hatte sich schnell daran gewöhnt, auf der Flucht vor einem Traumgesicht plötzlich aufzuschrecken und sich mit der unablässigen Furcht in der realen Welt konfrontiert zu sehen. Manchmal hatte sie große Schwierigkeiten, beides auseinanderzuhalten. Dann lag sie im Dunkeln und dachte an den Anblick des Obdachlosen auf der Straße von New Orleans. Sie sah, wie er nach alter Gewohnheit behaglich die Lippen um den vermeintlichen Flaschenhals legte. Nur dass er diesmal nicht das nasse Glas auf der Zunge fühlte, sondern den harten, trockenen, übelschmeckenden Lauf einer Pistole. Sie sah, wie die Verwirrung in seinen Augen aufflackerte, als sich ihre Blicke trafen. Seine Augen erinnerten an einen Hund, der ein ungewohntes Geräusch hört und neugierig den Kopf schief legt. Es war ein entsetzlicher Anblick – dieser offene Mund, die erwartungsvollen Augen, die sie ansahen, als hoffte der Mann auf einen Kuss.
    Und manchmal kam es noch schlimmer. Dann war es umgekehrt.Sie sah den Obdachlosen, wie er eine Flasche an die Lippen hob, und wenn sie selbst vor Staunen die Kinnlade fallenließ und sich fragte, wo die Pistole geblieben war, da erschien die Waffe direkt vor ihrem Gesicht. Sie versuchte, die Lippen zusammenzupressen, doch der Lauf bewegte sich zu schnell, und sie schmeckte das tödliche Metall am eigenen Gaumen.
    Sie sah dies alles und schrie; das heißt, noch häufiger dachte sie nur, sie hätte geschrien, und merkte wenig später, dass sie in Wahrheit keinen Ton von sich gegeben hatte. Sie hatte den Mund geöffnet und sich befohlen, einen Laut herauszubringen, war aber stumm geblieben.
    Auch das machte ihr Angst.
     
    Kurz vor Vicksburg, Mississippi, drosselte Jeffers das Tempo und fuhr rechts heran. Er zeigte mit dem Finger an ihr vorbei aus dem Beifahrerfenster. »Siehst du das?« Anne Hampton drehte sich um und blickte über ein weites grünes Feld mit einer grasbewachsenen Erhebung in der Mitte. Auf der Kuppe stand eine verwitterte Eiche, ein uralter Baum mit knorrigen, dichtbelaubten Zweigen, die sich über die Ebene reckten und mit dem Pflichtgefühl des Alters ihren Schatten warfen.
    »Ich sehe einen Baum«, sagte sie.
    »Falsch«, wies er sie zurecht. »Was du da vor dir hast, ist die Vergangenheit.«
    Er schaltete den Motor aus. »Komm mit«, forderte er sie auf.
    »Kleine Lektion in Geschichte.«
    Er half ihr über einen baufälligen Holzzaun und lief

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