Der Fotograf
dass er eine Kamera in der Hand hielt. Er hob sie ans Auge, drehte kurz am Objektiv und fotografierte sie. Er beugte sich vor, um den Winkel zu verändern, und drückte noch einmal ab. »Ich rede natürlich vom Fotografieren.«
Wieder lachte er, und sie stand wie erstarrt vor ihm und erwartete in militärischer Bereitschaft seinen Befehl.
»Komm mit«, forderte er sie auf, »ich erklär dir noch ein paar Dinge.«
Sie folgte ihm den Hang hinunter.
Im Auto fragte er: »Was ist das Wichtigste an Amerika?«
Sie ließ sich mit der Antwort Zeit, in ihrem Kopf arbeitete es auf Hochtouren. Sie stellte sich die Fotos vor, die Douglas Jeffers in jener Nacht von der Versammlung mitgebracht hatte – die Kapuzen, unter denen sich die rüpelhaften Klansmitglieder versteckten, und die Bauern mit ihrem vorwurfsvollen Schweigen, alles in körnigen Grautönen und mit starkenSchatten. »Die freie Rede«, antwortete sie, »der erste Zusatzartikel, stimmt’s?«
Er wandte den Blick vom Highway ab und sah in ihre Richtung. »Boswell lernt dazu!«, lobte er mit einem Lächeln. »Korrekt.«
Sie nickte und nahm das Notizbuch zur Hand, während sie stolz darauf war, einmal eine seiner rätselhaften Fragen richtig beantwortet zu haben.
»Aber fällt dir eine andere Freiheit ein, die ähnlich skrupellos missbraucht worden ist?«
Sie erkannte, dass dies nicht wirklich eine Frage war, die er an sie richtete, sondern der Auftakt zu einer Rede. »Denk an das Böse, das von diesem Hügel ausgegangen ist. Denke an das Unrecht, für das er steht. Wodurch geschützt? Unsere wichtigste Freiheit. Denk an den Film
Kreuz der Gewalt
. Die Nazis wollen in Skokie aufmarschieren, und wer erscheint auf dem Plan und verteidigt ihr Demonstrationsrecht? Die American Civil Liberties Union. Im Wesentlichen jüdische Rechtsanwälte. Es geht ums Prinzip, sagen sie. Und sie haben recht. Das Prinzip ist wichtiger als ein einzelner Akt. Das ist lächerlich. Wir sind eine Nation von Scheinheiligen, weil wir uns so streng an rigide Regeln halten. Richtig. Falsch. Freie Rede. Manifest Destiny. Das gehört zum amerikanischen Selbstverständnis. Was hat Superman verteidigt? Die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die amerikanische Lebensweise. Ein Pfadfinder ist vertrauenswürdig, loyal, hilfsbereit, freundlich, höflich, gehorsam, frohgemut, sparsam, tapfer, reinlich und ehrerbietig. Der Gruppenführer, der gerne kurze Hosen trägt, am Lagerfeuer Gespenstergeschichten erzählt und die Jungs in ihren Schlafsäcken begrapscht, wird geflissentlich verschwiegen …«
Er holte tief Luft, überlegte und fügte dann hinzu: »Willst dudieses Land wirklich verstehen? Es ist im Grunde ganz einfach. Du musst nur begreifen, dass wir gelegentlich unsere größten Stärken benutzen, um die größten Übel zu bewirken. Nicht immer. Nur manchmal. Aber doch so oft, dass es Kreise zieht.«
Er sprach jetzt schnell, nicht wütend, aber angespannt. Sie schrieb so schnell sie konnte.
Er schwieg.
Er kicherte.
»Vom ersten Verfassungszusatz bis zu den schwulen Pfadfinderführern …« Er warf den Kopf zurück, schüttelte ihn energisch und stieß ein trockenes Lachen aus.
Er sah Anne Hampton an.
»Ich muss verrückt sein«, stellte er grinsend fest.
»Nein, nein, ich glaube, ich verstehe …«
»Du irrst«, unterbrach er sie. Schlagartig wechselte sein Ton. Er klang jetzt hart und unwirsch, und im selben Moment verflog sein Lächeln. »Ich bin verrückt. Ich bin ganz fürchterlich verrückt. Sind wir alle, jeder auf seine Weise. Das ist unser nationaler Zeitvertreib, nur dass der Fall bei mir zufällig schlimmer liegt als bei anderen …« Er sah sie an. »Schlimmer als bei den meisten.«
Er wandte sich wieder nach vorne und starrte auf die Straße.
»Sag«, fing Douglas Jeffers nach einer Weile an, »was weißt du über den Tod?«
Sie dachte an eine Begebenheit in ihrer Kindheit, als sie ihre Großeltern auf der Farm besuchten. Das war vor Tommys Tod: Es war Sommer, und sie wollten im Teich schwimmen gehen. Doch als sie ans Ufer kamen, lagen überall schwarze und graue Gänsefedern verstreut. Ihr Großvater hatte genickt und gesagt: »Da hat eine Schildkröte zugeschnappt. Eine ziemlich große, möchte ich wetten, wenn die den ganzen Vogelauseinandergenommen hat.« Aus dem Baden wurde nichts. Ihr Großvater war ins Haus zurückgekehrt, wo er eine Schrotflinte aus dem Waffenschrank holte. Sie durfte bei ihm bleiben, während Tommy drinnen warten musste. Ihr Großvater legte
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