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Der Fotograf

Der Fotograf

Titel: Der Fotograf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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nicht vor, das Treffen zu stornieren, so wie heute?«
    Er funkelte sie an, erwiderte aber nichts.
    »Gut«, lenkte sie ein. »Ich nehme das als ein Nein.«
    Sie zögerte und sah ihn an.
    »Sie werden ihn nicht anrufen?«
    »Ich sagte Ihnen bereits, Detective, ich kann es nicht.« Jeffers, so viel war offensichtlich, rang um Haltung. Was für ein zartbesaiteter Mann, dachte sie plötzlich. Sie fragte sich, wie sie sich das zunutzen machen konnte.
    »Und wenn er Sie nun anruft? Rein theoretisch – was würden Sie ihm sagen?«
    »Tut er nicht.«
    »Könnte er aber.«
    »Ich sagte, er tut das nicht.«
    »Und wenn doch?«
    »Er ist mein Bruder. Ich würde mit ihm reden.«
    »Und was würden Sie ihm sagen?«
    Jeffers schüttelte verärgert den Kopf. »Er ist mein Bruder.«

8. KAPITEL
Weitere dunkle Orte
     
13.
    Sie fuhren parallel zum Mississippi Richtung Norden.
    Douglas Jeffers nannte den Fluss »den mächtigen Miss-sah-sip« und erteilte Anne Hampton eine kurze Lektion über Mark Twain. Er war offensichtlich enttäuscht darüber, dass sie nur
Tom Sawyer
gelesen hatte, und auch das nur in der Oberstufe der Highschool. Sie sei ungebildet, empörte er sich. Was sie denn überhaupt wisse, wenn sie von Huck keine Ahnung habe, fragte er. In jedem Fall würde es ihr dann schwerfallen, ihn zu verstehen. »Huck ist Amerika«, rief Jeffers mit Nachdruck. »Ich bin Amerika.« Sie antwortete nicht, sondern hielt seine Worte auf ihrem Notizblock fest.
    Er sprach zuerst leise, dann wechselte er in einen pedantischen Paukerton und klärte sie darüber auf, dass der Fluss einmal der wichtigste Handelsweg der Nation gewesen sei, der Wegweiser für den Sprung in den Westen, er führte durch das Herz Amerikas, eine Lebensader, die Politik, Kultur, Zivilisation und lebenswichtige Güter mit sich trug. Wer den Fluss erfasste, sagte er, der begriff auch, wie Amerika entstanden war. Er erklärte ihr, dasselbe gelte für Menschen; man müsse nur herausfinden, was für ein Strom durch einen Mann oder eine Frau fließe, und ihn dann bis zum Becken, in dem er sichsammelt, weiterverfolgen, um ihn zu ergründen. Als sie ihn verständnislos ansah, schrie er sie plötzlich an: »Die Rede ist von mir, verdammt! Kapierst du denn nicht, was ich sage? Ich versuche, dir Dinge beizubringen, die niemand, aber auch niemand auf der Welt versteht! Sitz nicht so dämlich da!« Sie machte sich klein und erwartete einen Schlag, doch er beherrschte sich, auch wenn er die Faust ballte. Er schwieg eine Weile, dann sinnierte er weiter über den Fluss.
    Gelegentlich fuhren sie so nah ans Wasser heran, dass sie sehen konnte, wie das Tageslicht auf der weiten Fläche glitzerte – ein endloses, stetes Strömen Richtung Golf, der hinter ihnen lag. Er bestand darauf, dass sie seine weitschweifigen Monologe möglichst wortwörtlich mitschrieb, und begründete seine Forderung damit, dass irgendwann einmal jemand den Wert dieser Gedankengänge erkennen und sie dann froh und dankbar sein würde, sie anständig aufgeschrieben zu haben.
    Sie konnte das zwar nicht nachvollziehen, doch in den letzten Tagen hatte sie es tröstlich gefunden, wenn er – wie vage auch immer – von der Zukunft sprach und sie daran erinnerte, dass jenseits dieser Autofenster, an denen die Landschaft vorüberglitt, noch ein Leben existierte, auf das Douglas Jeffers’ langer Arm keinen Zugriff hatte. Sie gehorchte und ließ den Stift so schnell sie konnte über den Schreibblock gleiten, auf dem sich die Buchstaben zu Worten, die Worte zu Sätzen aneinanderreihten.
    Wenn er sie aufforderte, es ihm vorzulesen, gehorchte sie.
    Er bat sie um eine kleine Korrektur, dann um einen Zusatz, und sie gehorchte.
    Sie gehorchte in allem. Ihm irgendetwas zu verweigern, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen.
    Mehrere Nächte waren vergangen – sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, wie viele – seit er den Obdachlosen erschossenhatte. Seit
ich
den Obdachlosen erschossen habe, dachte sie. Nein: Seit
wir
den Obdachlosen erschossen haben. Die Nächte verbrachten sie in irgendeinem unscheinbaren Motel in der Nähe des Highways – Etablissements, die mit roten, blinkenden Neonlettern auf ihre freien Zimmer aufmerksam machten; wo man die Wassergläser in einer Papiertülle bekam und wo an den Toiletten Zettel mit dem Hinweis klebten, dass sie hygienisch sauber seien.
    Als sie in einem dieser Motels zu ihrem Zimmer gingen, sah sie nicht weit von ihnen einen Mann an einem Getränkeautomaten stehen. Er trug einen

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