Der Fotograf
Schwarzen auf dem Hügel saugte er alles schweigend auf.
Komisch, dass sie sich nie geprügelt hatten. Alle Brüder prügeln sich, wenn auch vielleicht nicht regelmäßig, so doch zumindest häufig, überlegte er. Sie kämpfen um alles und jedes, versuchen, ihren Machtbereich in der Familie abzustecken. Die Bindung zwischen Geschwistern beruht auf dieser Spannung, glaubte er. War erst genug Herzblut geflossen, blieb die gegenseitige Zuneigung bestehen.
Bei sämtlichen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater, mit ihrem falschen Vater, war Marty auf Distanz geblieben. Jeffers verzog das Gesicht und biss sich auf die Lippe, während langsam eine diffuse Wut in ihm aufstieg, die sich auf den Mann, auf den Jungen, auf sich selbst richtete.
»Ich hasse Neutralität«, brach es aus ihm heraus. »Ich verachte sie.« Aus dem Augenwinkel sah er, dass Anne Hampton zusammenschreckte.
Na ja, dachte Jeffers, mit dieser verdammten Abgeklärtheit ist es bald vorbei.
Er blickte kurz zu Anne Hampton hinüber, dann wandte er sich wieder dem Highway zu. Er stellte sich ihre Glieder, ihren Körper vor, doch seine Gedanken wanderten schnell wieder in die Vergangenheit, und statt seiner Reisegefährtin sah er die Frau des Drogisten vor sich. Wenn sie sich morgens, nachdem ihr Mann zur Arbeit gegangen war und bevor die Jungen sich auf den Schulweg machten, ankleidete, blieb die Tür angelehnt. Sie ließ sich sehr viel Zeit. Sie wusste, dass er ihr zu sah. Er wusste, dass sie es wusste. Als er Marty zu überreden versuchte, ebenfalls zuzuschauen, hatte sein Bruder sich umgedreht und war wortlos gegangen.
»Hast du deinen Bruder geliebt?«, fragte er Anne Hampton.
»Ja«, antwortete sie. »Auch wenn ich ihn, weiß auch nicht, seltsam fand. Irgendwie rätselhaft.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, ich war nur drei Jahre älter als er, und wir hatten, ich weiß nicht, wir hatten nicht viel gemeinsam. Ist das nachvollziehbar? Er war ein kleiner Junge, also machte er Sachen, die eben kleine Jungen machen, und ich war ein kleines Mädchen, und so spielte ich wie ein kleines Mädchen. Aber ich habe ihn geliebt.«
»Das ist durchaus nachvollziehbar. Im Grunde hat man mitseinen Geschwistern ziemlich wenig gemein. Ein gewisses Maß an Erinnerungen, weil man dieselbe Vergangenheit hat. Aber das ist streng genommen ein Trugschluss, weil jeder dieselben Ereignisse anders im Gedächtnis behält. Folglich haben sie für verschiedene Menschen nicht dieselbe Bedeutung.«
»Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.«
Er nickte.
Sie schwiegen.
»Siehst du«, meinte er. »Wir führen ein fast normales Gespräch. War doch gar nicht so schlimm, oder?«
Sie schüttelte den Kopf.
Nach einer Weile fragte sie: »Wie ist Ihr Bruder so?«
»Er ist Arzt«, antwortete Jeffers. »Seelendoktor. Und er ist ungefähr so unglücklich wie die Leute, die er behandelt. Er ist alleinstehend und weiß selbst nicht, warum.«
Sie nickte. Er registrierte, dass sie sich Notizen machte.
»Gut«, lobte er. Sie antwortete nicht.
Doch er beantwortete ihre unausgesprochene Frage: »Nein, ich glaube nicht, dass ich ihn liebe«, sagte er, »jedenfalls nicht mehr als irgendjemand oder irgendetwas sonst.«
Er schüttelte den Kopf. »Liebe ist etwas, das ich mir längst aus dem Kopf geschlagen habe. Glück genauso.«
Er lachte bitter. »Ich klinge wie eine Figur in einer dieser Soaps im Nachmittagsprogramm. Guckst du die manchmal?«
»Nein. An der Schule gab’s ’ne Menge Leute, die keine Folge ausließen, die waren süchtig danach. Aber ich konnte nichts daran finden.«
»Hätte mich auch gewundert.«
Sie zögerte, dann fragte sie: »Aber Sie lieben Ihre Arbeit?«
Er lächelte.
»Ich liebe meine Arbeit.«
Das Grinsen, das sich in seinem Gesicht breit machte, schien darauf hinzudeuten, dass er etwas komisch fand, und sie hatte einen heftigen Anflug von Panik.
Was hält er selbst von seiner Arbeit?, fragte sie sich. Der Gedanke trieb sie um.
»Ich meine«, fuhr sie fort, »Sie sprechen sehr respektvoll von diesen Bildern. Sowohl von Ihren eigenen als auch von denen anderer, die Sie gesehen haben.«
»Ich hab eine Menge Fotos gemacht. Mit völlig verschiedenen Sujets.«
Sie nickte, und sie fuhren weiter, ohne etwas zu sagen.
Douglas Jeffers dachte an seine Fotos.
»Immer der Tod«, erklärte er. »Na ja, nicht immer. Aber in letzter Zeit immer öfter. Ich mache Schnappschüsse vom Tod. Ich hab eine Serie gemacht, für einen Essay in
Life,
erst vor kurzem. Über eine
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