Der Fotograf
Vierundzwanzig-Stunden-Schicht in einer großstädtischen Notaufnahme …«
»Ach«, unterbrach ihn Anne Hampton. »Die hab ich gesehen. Die waren gut.«
»Sie handelten vom Tod. Selbst die Aufnahmen von den Ärzten und Schwestern und den Krankenwagenfahrern – weißt du, es ging darum, einzufangen, wie all die Gewalt und die zertrümmerten und zerrissenen Körper diese Leute fertigmachten. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Weißt du, wenn man sich zu lange an etwas Schrecklichem wundreibt, wird es ein Teil von einem. Es bleibt immer etwas davon haften.«
Er legte eine kurze Pause ein, bevor er sagte: »Genau das ist mir passiert.«
Sie nickte und empfand einen Moment lang so etwas wie Mitleid.
Dann dachte sie an den Regen und Wind, die falsche Straße, und plötzlich hatte sie eine Horrorvision davon, wie es wohlsein musste, in der Erde begraben zu sein. Sie merkte, wie sie einen Kloß im Hals bekam, und sie schnappte nach Luft.
»Ich habe die Übersicht verloren«, stellte Jeffers in sachlichem Ton fest.
Ihr wurde eng um die Brust, und ihr Atem kam wie bei einem heftigen Asthmaanfall mit lautem Pfeifen.
»Worüber?«, stöhnte sie.
»Wie viele Tote ich gesehen habe. Ich habe es mal gewusst. Ich habe sie gezählt. Aber heute nicht mehr. Sie gehen nahtlos ineinander über. Als ich in dieser Notaufnahme war, haben sie einen Teenager reingebracht, er war gerade mal ein paar Jahre jünger als du. Er hatte auf dem Beifahrersitz gesessen, während ein anderer Junge betrunken Auto gefahren war. Der andere Junge, der Fahrer, hatte, ob du’s glaubst oder nicht, nur ein paar Blutergüsse und einen gebrochenen Unterarm. Aber dieser Junge würde ins Gras beißen, und das Schrecklichste war, dass er nicht ohnmächtig wurde. Er wusste es. Er wusste, dass all diese Leute mit ihren Apparaturen und Nadeln ihm nicht helfen konnten. Ich hab seine Augen fotografiert, unmittelbar, bevor es mit ihm zu Ende ging. Aber das Bild wurde nicht genommen. War nicht scharf genug, weil mich irgend so ein Vollidiot geschubst hat, als ich gerade auf den Auslöser drückte …«
Er zuckte die Achseln.
»Kann passieren. Gehört zum Geschäft.«
Er schwieg eine Weile, bevor er sagte: »In der Nacht bin ich nach Hause gegangen und habe mich gefragt, der wievielte dieser Junge war. Der Tausendste? Oder Zehntausendste? Ich kannte mal einen Polizeireporter, der Buch führte, also habe ich es auch getan. Aber irgendwann kam ich durcheinander. In Vietnam? In Beirut? Ich war ein paarmal da. Und wenn wir schon mal dabei sind, wie wenig ein Menschenleben wertist … Als diese Chartermaschine bei New Orleans abstürzte, ist sie in zwei Teile zerbrochen, und die Menschen hat es in alle Richtungen geschleudert. Die Rettungsmannschaften haben Körperteile wie verfaulte Früchte von den Bäumen gepflückt …«
»Es ist eben passiert«, sagte Anne Hampton, »solche Dinge passieren eben.«
»Nein, tun sie nicht«, entgegnete Jeffers wütend. »Der Junge stirbt, weil sein Kumpel zu viel säuft. Der Flieger stürzt ab, weil der Pilot auf die Idee verfällt, seinem Kopiloten mal eben den Start zu überlassen, obwohl der Tower vor starkem Rückenwind gewarnt hat. Die kleinen Kinder in Beirut sterben, weil sie draußen spielen und diese Granaten, die abgefeuert werden, die unheimliche Gabe besitzen, spielende Kinder auf der Straße anzusteuern … Das hat mit Ursache und Wirkung zu tun. Der Tod ist nur einfach die häufigste Folge.«
Er sah sie an.
»Weißt du, wenn ich jemanden töte, dann tue ich es, weil ich es will. Nur so kann ich mir bewusstmachen, dass ich noch lebe.«
Ihre Hand zitterte, als sie seine Worte niederschrieb.
Er wartete.
Es herrschte Stille, doch sie wusste, dass er sie füllen würde.
»Mehr als …« Er unterbrach sich, bevor er eine Zahl nennen konnte.
Sie schloss die Augen und versuchte, langsam zu atmen. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass er grinste.
Sie wollte lieber nicht so genau wissen, weshalb.
Stundenlang fuhr er wortlos und in gleichmäßigem Tempo. Als sie tanken mussten, scherte er zu einer Autobahntankstelle aus und forderte den Tankwart mürrisch auf, vollzutanken.Er bezahlte bar und setzte ein nonchalantes Lächeln auf, als er Gas gab und die Tankstelle verließ, so dass jeder denken musste, sie seien ein ganz normales Paar – ohne besondere Eile, auf einer ganz normalen Fahrt zu einem vertrauten Reiseziel, zu einem klar umrissenen Zweck.
Nach einer Weile sagte er: »Boswell, wundert dich das alles
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