Der Fotograf
nicht maßlos? Gehen dir nicht tausend Fragen durch den Kopf?«
Anne Hamptons einziger Gedanke war, dass nichts als Angst ihren Kopf beherrschte.
»Ich hatte das Gefühl, ich sollte besser nicht fragen«, antwortete sie. »Ich dachte, Sie würden mir schon erzählen, was Sie mir erzählen wollen.«
Er nickte. »Das klingt vernünftig.«
Nach einer Pause fügte er hinzu: »Boswell, fragst du dich nicht, was das Ganze hier soll?«
Sie nickte.
»Ich weiß, dass Sie einen Plan haben …«
»Ja«, bestätigte er. »Und zwar einen ziemlich genauen.«
Mehr verriet er ihr nicht. Stattdessen fragte er: »Sehe ich alt aus, Boswell? Kannst du in meinem Gesicht Falten entdecken? Wirke ich frustriert oder müde? Streitsüchtig, reizbar, alt? Ich fühle mich nämlich sehr alt, Boswell. Uralt.«
Sein Ton wechselte schlagartig, und er fragte streng: »An welchem Tag haben wir uns getroffen?«
Augenblicklich schnürte es ihr die Kehle zu.
Sie konnte sich nicht erinnern. Eine Stimme in ihr sagte, sie sei schon seit einer Ewigkeit in diesem Wagen, sie sei schon immer bei ihm. Eine andere Stimme erwachte in einem tiefen Winkel ihres Bewusstseins und führte ihr Bilder von ihrer Wohnung, von verwelkten Blumen in einer Vase auf der Fensterbank vor Augen, von ihren Bücherregalen, dem Schreibtisch, dem kleinen Bett und Nachtschrank. Sie sah Bilder vonihren Eltern und ein Aquarell an der Wand, mit Booten in einem Hafen, das sie vor ein paar Jahren auf einer Reise an die Ostküste entdeckt hatte. Es war eigentlich zu teuer gewesen, doch es lag etwas in diesem Bild, das sie faszinierte – vielleicht der Frieden, die Ordnung, die Ruhe der Boote, die in der Spätnachmittagssonne vor Anker lagen. Sie dachte an ihre Seminare, daran, wie sie morgens die Sommerhitze weckte, oder wie sie am ganzen Körper schwitzte, wenn sie über den Campus lief. Ebenso kurz stieg in ihr das Bild ihrer Eltern in Colorado auf, wie sie im Haus saßen und ihr beschauliches Leben führten. Wenn sie wüssten, was passiert ist, wären sie in Panik und würden weinen. Sie wären verzweifelt. In diesem Moment schienen sie ihr wie Wesen aus einem Traum.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie.
»Niemand weiß es, verstehst du?«
Sie nickte.
»Niemand sucht nach dir.«
Wieder nickte sie.
»Selbst wenn jemand neugierig wäre, hätte er keine Ahnung, wo er suchen sollte. Verstehst du? Du hast keine Spur hinterlassen.«
Sie nickte zum dritten Mal.
»Das passiert ständig – Menschen verschwinden, zack, und sie sind weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Eben noch sind sie da, dann sind sie weg.«
Trübsinnig ließ sie zur Bestätigung den Kopf hängen.
»Genau das ist mit dir passiert.«
Er sah sie unfreundlich an.
»Ich bin jetzt deine Vergangenheit. Ich bin deine Zukunft.« Sie wollte weinen, wagte es aber nicht. Sie dachte an die Stimmen der Trauergäste – du musst jetzt tapfer sein. Bei der Erinnerung wurde sie wütend.
Jeffers redete weiter.
»Das ist wie bei diesen idiotischen Milchpackungen mit den Fotos von den verschwundenen Kindern und den Kontaktdaten der ermittelnden Behörden drauf. Deprimierend. Die Kinder sind verschwunden. Für immer entführt. Wir sind eine Nation von Rattenfängern, verstehst du? Spielen ständig auf der Pfeife, nach der die anderen tanzen sollen. Wir entführen andauernd Menschen, und sie sind wie vom Erdboden verschluckt.«
Er schwieg.
»Genau sowar es auch bei sämtlichen anderen.«
Wie viele noch?, dachte sie.
O mein Gott, ich bin die Nächste. Ich bin immer noch die Nächste. War ich von Anfang an. Doch sie konnte es sich nicht leisten, der Angst so weit nachzugeben, dass sie in Panik geriet und schrie. Vielmehr machte sie sich bewusst, dass dies dieselbe Angst war, die sie vom ersten Moment an gelähmt hatte; als sie ihr erst einmal vertraut zu sein schien, war sie weniger erschreckend.
Einen Moment lang fragte sie sich, ob das eine Art Todesgewissheit war, so ähnlich wie bei den Passagieren in einem Flugzeug, das in die Tiefe stürzt. Sie hatte gelesen, dass den kurzen Schreien eine stumme Schicksalsergebenheit folgte, Sekunden des Friedens und des stillen Gebets. Wie der Moment vor dem Erschießungskommando. Willst du eine Zigarette? Eine Augenbinde?, fragt der Kommandeur. Nein, nur einen letzten Blick auf den Morgen.
Sie starrte aus dem Fenster und legte zum Schutz gegen die blendende Sonne die Hand über die Augen. Sie wusste nicht, wieso, doch sie empfand eine seltsame, ungewohnte
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