Der Fotograf
eine komplette Lüge. Ich mach da nicht mit, sagte sie plötzlich in Gedanken, ich weigere mich, er zu sein.
Sie war von ihrer Entschlossenheit selbst überrascht.
»Selbstverständlich nicht. Sonst wäre es ja keine Herausforderung. Kein Abenteuer. Hast du zufällig
The Most Dangerous Game
von Richard Connell gelesen?«
»Ich glaube nicht.«
Er schnaubte. »Also wirklich, Boswell, wo bleibt deine Bildung?«
»Ich hab eine Menge gelesen«, erwiderte sie zu ihrer Verteidigung. »Ich habe eine Menge Bücher gelesen, von denen Sie wahrscheinlich keine Ahnung haben. Was wissen Sie über
Middlemarch?
« Noch während sie ihre eigene Stimme hörte, hätte sie sich am liebsten den Mund zugehalten. Sie schloss die Augen und rechnete mit einer Ohrfeige.
Stattdessen lachte er.
»Der Punkt geht an dich«, gestand er ihr zu. »Aber zurück zu meiner Frage: Welches ist das gefährlichste Spiel?«
»Mord ist kein Spiel.«
»Nicht?«
Sie schwiegen.
»Na schön«, lenkte er nach einer Weile ein. »Ich werde mich bemühen, weniger frivol zu sein. Natürlich ist Mord kein Spiel. Aber auch kein Hobby. Es ist eine Lebensweise. Meine Lebensweise.«
»Ich verstehe nur nicht, wie …«, fing sie an, doch er unterbrach sie.
Er lachte.
»Na endlich! Sie fragt, warum! Wurde langsam Zeit.«
Sein Ton verdüsterte sich.
»Und jetzt werde ich es dir sagen.«
In diesem Moment hatte sie das Gefühl, in etwas hineingestolpert zu sein, das für ihre Augen nicht bestimmt war. Sie erinnerte sich, wie sie eines Nachts nicht hatte schlafen können und durch einen Spalt in der Tür ins Schlafzimmer ihrer Eltern gespäht und sie eng umschlungen entdeckt hatte, während sie versuchten, bei der Liebe nicht zu laut zu sein. Wie damals wurde sie vor Angst und Scham rot. Sie ließ den Bleistift fallen und bückte sich, um ihn aufzuheben. Die Erkenntnis, dass Wissen gefährlich sein konnte, traf sie wie ein Schlag: Je mehr sie wusste, desto tiefer verstrickte sie sich, desto geringer war ihre Chance, dem Alptraum zu entkommen. Die düsteren Überlegungen waren erdrückend, und sie hätte am liebsten in aller Stille geweint, so wie damals, als sie durch einen einzigen Blick für immer ihre Unschuld verlor, ins Kissen schluchzte und vor Seelenqual nicht ein noch aus wusste.
Zuversichtlich und ein wenig übermütig beschwingt, wartete er, bis er sicher war, dass seine Fragen sie, wie geplant, insMark getroffen hatten und mit einer bösen Vorahnung erfüllten. Endlich, dachte er. Die Worte sprudelten enthusiastisch aus ihm heraus.
»Nach dem ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich unglaubliches Glück gehabt hatte. Immerhin hatte ich eine Prostituierte auf der Straße aufgelesen, und zwar in einem Leihwagen, den man nur allzu leicht bis zu mir zurückverfolgen konnte. Ich hatte sie im Auto geschlagen, so dass man ihre Blutgruppe anhand der Flecken im Polster bestimmen konnte. Und ich hatte sie in einer Gegend abgeladen, mit der ich nicht vertraut war. Außerdem hätte mich jederzeit jemand sehen können. Ein Passant. Ihr Zuhälter. Ein Trucker, der aus seinem drei, vier Meter hohen Führerhaus heruntersieht. Ich habe genügend Fuß- und Fingerabdrücke hinterlassen, dass jedes beliebige Forensik-Labor mich hätte überführen können. Gewebefasern, Schmutzpartikel, Haare. Verflucht, ich hab die Schaufel, mit der ich sie begraben habe, sogar mit der Kreditkarte bezahlt. Ich hab so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Unglaublich dämlich, weißt du …«
Er warf ihr einen kurzen Blick zu, erwartete aber keinen Kommentar.
»Und weißt du, wie es mir hinterher ergangen ist? Ein unglaublicher Nervenkitzel. Eine Angst, wie sie in Alpträumen auftritt. Ich bin in einer Art Schwebezustand herumgelaufen und hab mir ernste Sorgen gemacht, paranoid zu werden. Ich dachte, meine sämtlichen Jugendsünden würden jeden Moment einen Kripobeamten mit Haftbefehl auf den Plan rufen. Was natürlich nie passierte, aber es war ein Gefühl, als stünde ich die ganze Zeit unter Strom.
Dasselbe galt für meine Bilder. Sie wurden prägnanter. Besser. Leidenschaftlicher. Schon seltsam, was? Aus der Angst wurdeKunst. Ich war vom Erfolg wie besessen. Ich weiß noch, dass ich ein paar Nächte lang nicht schlafen konnte, weil ich so aufgeregt war. Es hatte vollkommen von mir Besitz ergriffen. Also beschloss ich, umherzufahren, um mir einfach nur das Lichtermeer der Stadt anzusehen. Vielleicht würde das meine Gefühle beruhigen. Ich hörte
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