Der Fotograf
Polizeifunk. Alle Fotografen schleppen ständig Radios mit sich herum, das war also nichts Ungewöhnliches. Man hört ständig Funk, man kann ja nie wissen. Und das war nun eine von diesen Nächten.
Ich hörte auf einmal diese Stimme, auf einem Sender mit gutem Empfang, und sie klang aufgeregt, fast in Panik: Hilfe, Hilfe, schicken Sie einen Beamten, schnell … und dann wurde die Adresse durchgegeben. Ich war nur ein paar Häuserblocks entfernt. Ein Staatspolizist, weißt du, hatte bei einem Wagen, bei dem ein Rücklicht nicht funktionierte, eine gewöhnliche Verkehrskontrolle durchgeführt. Er muss wohl auf Ärger aus gewesen sein, denn er bekam eine volle Ladung aus einer Achtunddreißiger in die Brust. Er war vier Jungs zu nahe getreten, die gerade einen Spirituosenladen ausgenommen hatten. Und ich war als Erster da – vor den anderen Cops, vor dem Rettungswagen. Nur ich und meine Kamera und der Junge, der den Schuss von der anderen Straßenseite aus beobachtet hatte, weil er einen Reifen gewechselt hatte. Er hatte den Notruf gemacht. Der Junge hielt den Kopf des Polizisten im Schoß. Klick! Klick! Helfen Sie mir, bat der Junge. Klick! Helfen Sie uns!, bat er. Was machen Sie da? Klick! Bitte … Klick! Vielleicht dreißig Sekunden. Dann habe ich ihm geholfen. Ich nahm die Hand des Polizisten und fühlte nach dem Puls. Zuerst war er da, aber bald wurde er wie das Licht in der Abenddämmerung schwächer und verschwand. Und dann alles auf einmal, die Scheinwerfer, die Sirenen. Gott! Das waren phantastische Aufnahmen!«
Jeffers hielt inne. Er sprach nun langsamer, bedachter.
»Und so kam ich dazu, Mord zu studieren.«
Schweigen.
»Ich konnte nicht anders.«
Der Stift schwebte über dem Notizbuch, während sie versuchte, die Angst abzuschütteln und sich nur auf seine Worte zu konzentrieren.
Sie schärfte sich ein, so zu denken wie im Seminarraum, wie bei einer Vorlesung. Sie merkte, dass der Versuch lächerlich war.
Douglas Jeffers’ Kopf war voller Bilder, und er überlegte, ob er vielleicht anekdotisch vorgehen sollte. Er warf einen Seitenblick auf Anne Hampton und sah, dass sie wartete; sie war blass und mitgenommen, am Rande einer Angstattacke, aber dennoch wartete sie. Mit Genugtuung stellte er fest: Jetzt gehört sie mir.
Dann machte er weiter.
»Ich hatte also unglaubliches Glück gehabt, dabei verlasse ich mich nicht gerne auf mein Glück. In meiner Freizeit ging ich immer öfter in die Bibliothek und las. Ich interessierte mich ebenso für Belletristik wie für wissenschaftliche Bücher. Ich las juristische Fallstudien und medizinische Abhandlungen. Ich las die Geständnisse von Mördern ebenso wie Gefängnisberichte. Ich las die Memoiren von Kripobeamten, von Pathologen, von Strafverteidigern, von Staatsanwälten und Auftragskillern. Ich kaufte Bücher über Waffenkunde. Ich studierte Physiologie. Ich zog mir einen weißen Laborkittel über und besuchte an der Columbia Medical School Anatomievorlesungen. Ich musste einfach wissen, wie genau Menschen starben.
Ich las Zeitungen und Zeitschriften. Ich abonnierte
True Detective
und
Police
. Ich brachte Stunden mit den Schriftenprominenter forensischer Psychiater zu. Ich lernte viel über Sexualmörder, Massenmörder, Berufsmörder, Mörder beim Mili tär. Ich studierte Massaker und Mordkomplotte. Ich machte mich mit de Sade, Blaubart, Albert DeSalvo und Charles Whitman vertraut, außerdem mit dem Massaker von My Lai sowie den Angriffen auf die Flüchtlingslager von Shatila. Ich kannte Raskolnikow, Mengele, Kurtz, Idi Amin und William Bonney, den du vermutlich unter dem Namen Billy the Kid kennst. Ich weiß eine Menge über die PLO und die Roten Brigaden. Ich kann dir alles über Charles Manson oder Elmer Wayne Henley erzählen oder über Wayne Gacy, Richard Speck, Jack Abbott, Lucky Luciano oder Al Capone. Vom Valentinstagmassaker bis zu den Freeway-Morden. Von der Salemer Hexenjagd bis zu den Drogenkriegen in Miami oder dem Zodiac-Killer von San Francisco. Ich kenne mich mit 007 ebenso gut aus wie mit dem echten MI-5. Ich könnte dir erklären, wieso Bruno Richard Hauptmann wahrscheinlich kein Mörder war, auch wenn sie ihn hingerichtet haben, oder wieso Gary Gilmore in Wahrheit ein Loser war, der zufällig gemordet hat, der aber ebenfalls hingerichtet wurde. Ich hab alles gelesen von Camus’ Essay über die Todesstrafe bis zu McLendons Roman
Deathwork
, und dann habe ich mich auf den Bericht der Warren-Kommission gestürzt und auf die
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