Der Fotograf
wir Ihnen Bescheid geben, wenn es so weit ist?«
»Das würde ich mir nie entgehen lassen.«
»Gut. Ich ruf an.«
»Ich warte.«
Sie schüttelten sich die Hände, und als sie das Büro verließ, hatte sie zum ersten Mal seit Tagen Hunger.
Zwei Tage später erst kehrte sie in ihr Büro zurück, nachdem sie den ganzen heißen Tag lang in einer dreckigen Werkstatt im Lagerhausviertel, die gestohlene Pkws ausschlachtete, ein Inventar mit Autoteilen zusammengestellt hatte. Auf ihrem Schreibtisch warteten zwei Notizen – die erste von ihrem eigenen Vorgesetzten mit einer Aufstellung des Beweismaterials von der Stelle, an der man Susans Leiche geborgen hatte. Die zweite kam aus dem Büro des Gerichtsmediziners und betraf die Autopsie. Sie las beide sorgfältig durch.
A N : Det. Mercedes Barren
V ON : Lt. Ted March
M ERCE : Das war eine Bisswunde, aber sie war zu zerfetzt, als dass es für einen klaren Abdruck gereicht hätte, gibt folglich als Beweismittel nicht viel her. Die Speichelanalyse vom Abstrich an der Stelle weist normale Enzymwerte auf, die Alkoholrückstände erschweren allerdings die Blutgruppenbestimmung oder machen sie sogar unmöglich. Der Kerl muss ein, zwei Drinks intus gehabt haben. Alkohol versaut uns immer die Ergebnisse. Trotzdem hab ich die ganze Probe ins Labor zurückgeschickt und ihnen gesagt, sie sollen’s noch mal versuchen. Die beiden am Fundort sichergestellten Kondome enthielten unterschiedliches Sperma. Beide schon beträchtlich zersetzt. Trotzdem, eine war A-positiv, die andere 0-positiv. Weitere Analysen sind in Arbeit. Bis jetzt noch keine brauchbaren Fingerabdrücke oder dergleichen, aber sie wollen bei den Getränkedosen diesen Laser-Evaluator ausprobieren.
Ich halte Sie auf dem Laufenden. Bis jetzt ein ziemlicherReinfall auf der ganzen Linie. Tut mir leid. Aber wir strengen uns weiter an.
A N : Detective Mercedes Barren
V ON : Arthur Vaughn, Gerichtsmedizinischer Assistent
D ETECTIVE : Todesursache bei einer weißen Frau, Alter achtzehn, zweifelsfrei als Susan Lewis aus Bryn Mawr, Pennsylvania, identifiziert, ist ein massives Trauma am Hinterhauptbein, verbunden mit Erstickung durch Strangulierung mit Nylon-Ligatur um den Hals (zu genauer Ursache vgl. Autopsieprotokoll). Abstriche an Genitalien negativ. Test auf Sperma negativ.
D ETECTIVE : Sie war von dem Schlag auf den Kopf bewusstlos. Wahrscheinlich ist sie nicht einmal zu sich gekommen, als er sie stranguliert hat. Der Sexualakt war allerdings prämortal. Doch keine Zeichen für eine Ejakulation, möglicherweise aufgrund von Verhütungsmittel.
Das tut mir alles schrecklich leid. Das Autopsieprotokoll sollte mögliche Fragen beantworten, andernfalls rufen Sie bitte jederzeit an.
Detective Barren steckte die beiden Mitteilungen in ihre Tasche. Sie warf einen Blick auf das Autopsieprotokoll mit dem schematischen Diagramm und der seitenlangen Beschreibung ihrer toten Nichte, eine Niederschrift dessen, was der Gerichtsmediziner ins Diktiergerät gesprochen hatte. Größe, Gewicht, Hirn: 1220 Gramm. Herz: 230 Gramm. Gutentwickelte, postadoleszente Amerikanerin. Keine Anomalien festgestellt. Ein Leben auf eine Reihe von Fakten und schematischen Darstellungen reduziert. Jugend, Enthusiasmus und Zukunft ließen sich auf diese Weise nicht messen. Detective Barren überkam ein seltsames Gefühl, und sie war demGerichtsmediziner dankbar, dass er ihr in seiner zwanghaften Gründlichkeit nicht auch noch Dias von der Autopsie mitgeschickt hatte.
Auf ihrem Heimweg machte Detective Barren an diesem Abend in einem kleinen Buchladen halt. Der Verkäufer war ein kleiner runder Mann mit glänzenden Augen, der sich oft die Hände rieb und seine Worte durch eine lebhafte Körpersprache unterstrich. Für Detective Barren war er eine perfekte Verkörperung des Dickens’schen Uriah Heep.
»Etwas, in das man sich flüchten kann? Einen Roman, nehme ich an, ein Abenteuer oder eine Horrorgeschichte. Eine Romanze oder ein Krimi. Was darf’s denn sein?«
»Eine richtige Flucht ist es, wenn eine Realität durch eine andere ersetzt wird.«
Der Verkäufer überlegte einen Moment.
»Sie sind nicht unbedingt der Romantyp, oder?«
»Schon, vielleicht. Ich hege nur keine romantischen Gefühle. Aber ich suche etwas, das mich ablenkt.«
Also verließ sie den Laden mit zwei Büchern unter dem Arm. Einer Geschichte des Falklandkriegs und einer neuen Übersetzung von Aischylos’
Orestie
. Ein Stück die Straße hinauf gab es einen
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