Der Fotograf
»Ereignisse.«
Jeffers hatte das Gefühl, ruhig und vernünftig zu klingen. Er hasste seine Stimme.
»Oder höchstwahrscheinlich eine Kombination aus beiden.«
Detective Barren fühlte sich plötzlich gestärkt, als wiche die Erschöpfung mit einem Schlag. Sie stand auf und schritt im Zimmer auf und ab, während sie unentwegt mit der Faust in den offenen Handteller schlug und angestrengt überlegte.
»Normalerweise«, meinte sie, »gehen Polizisten deduktiv vor, um logisch zu erfassen, wieso etwas passiert ist und wie. Beides hängt miteinander zusammen …« In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie fast den dozierenden Tonfall von Martin Jeffers angenommen hatte, doch sie fuhr ungerührt fort: »Es kommt nicht oft vor, dass wir etwas vorhersagen müssen …«
»Das ist in meinem Beruf nicht anders«, bemerkte Martin Jeffers.
Sie nickte.
»Jetzt aber müssen wir genau das.«
Sie sah in seinen Augen, dass er ihr recht gab.
»Vermutlich würde es uns Monate kosten, herauszufinden, welches Foto wo gemacht wurde …«
»Ich stimme Ihnen zu. Außerdem wissen wir nicht, welche Rangordnung er dafür hat, was seine Reiseroute beeinflussen dürfte«, warf Jeffers ein.
»Folglich konzentrieren wir uns auf die andere Art von Erinnerungen: die persönliche Geschichte.«
»Na ja, da haben wir es fast mit dem gleichen Problem zu tun. Wir haben keine Ahnung, was für ihn Priorität besitzt. Ebenso wenig wissen wir, in welcher Reihenfolge er die Stationen abklappern würde.«
»Zumindest können Sie Vermutungen anstellen.«
»Aber mehr auch nicht – reine Vermutungen.«
»Das genügt fürs Erste! Zumindest haben wir dann etwas in der Hand.«
Jeffers nickte.
»Na ja, wir wurden damals in New Hampshire ausgesetzt. Das liegt bestimmt auf seiner Reiseroute.«
»Wie meinen Sie das, ausgesetzt?«
Martin Jeffers’ Antwort war schroff: »Aufgegeben! Tritt in den Hintern! Rausgeschmissen! Da ist die Tür! Was zum Teufel denken Sie denn?«
»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich, von seinem heftigen Wutausbruch verblüfft. »Ich wusste wirklich nicht, was Sie meinen.«
»Hören Sie«, lenkte er in festem Ton ein, »so ungewöhnlich ist das nicht. Unsere Mutter war das schwarze Schaf in der Familie. Sie ist mit einem Typen durchgebrannt, der gerade aus dem Kriegsdienst entlassen worden war. Sie sind in einer Jahrmarktsnummer aufgetreten – Sie wissen schon, Kirmesschausteller, die quer durchs Land tingeln. Sie hat den Kerl nie geheiratet, jedenfalls soweit wir wissen. Schließlich kam Doug auf die Welt. Dann ich. Ich glaube, keiner von beiden hat sich allzu viel aus Kindern gemacht. Zuerst ist er abgehauen, dann hat sie dafür gesorgt, dass wir von Verwandten adoptiert wurden. Sie sollte uns hierher nach New Jersey bringen, aber vermutlich war ihr das zu mühselig, denn sie hat uns in New Hampshire zurückgelassen. In Manchester, genauer gesagt.«
Er zögerte.
»Ich entsinne mich ganz genau an die verdammte Polizeiwache, in der wir warten mussten. Es war schummrig, und die Wände waren voller Kritzeleien, die ich nicht entziffernkonnte, die aber irgendwie nicht dahin gehörten. Und alle waren so riesig groß. Sie kenne sicher das Gefühl, wenn man klein ist – als ob die ganze Welt nur für die Großen gemacht wäre …«
»Und Ihr Bruder?«
»Er hat mich durchgebracht. Er hat für mich gesorgt.«
»Wie hat er reagiert?«
Jeffers holte tief Luft.
»Er hat sie dafür gehasst, dass sie uns verlassen hat. Er hat sie dafür gehasst, dass sie uns nicht geliebt hat. Unsere neuen Eltern hat er genauso gehasst. Falsche Eltern, hat er immer gesagt.«
»Und Sie?«
»Ich auch. Aber nicht so sehr wie er.«
In dem Moment fragte er sich, ob er log.
»Wo sind Sie gelandet?«
»Hier.«
»Nein, ich meine …«
»Ich weiß, was Sie meinen. ›Hier‹ ist die richtige Antwort. Die Verwandten, die uns adoptiert haben, wohnten in Rocky Hill, auf der anderen Seite von Princeton. Er war Drogist. Eigentlich war er Geschäftsmann, und ein verdammt guter. Ihm gehörte ein Drugstore in der Nassau Street, den er irgendwann für einen Haufen Geld an eine Kette verkauft hat. Er hat klug investiert. Er war solide. Mittelschicht.«
»Sie klingen nicht …«
»Hab ich auch nicht. Doug hasste ihn mehr. Der Mistkerl hat uns nach der Adoption noch nicht mal seinen Namen gegeben. Jeffers ist der Name unserer leiblichen Mutter. Wissen Sie, wie das ist, als Kind und als Jugendlicher? Sie müssen immer wieder alles erklären. Jedesmal
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