Der Fotograf
elektronische Instrument an den Hörer. Es ertönte schrilles Piepsen und Quiek sen, bevor sich das Band abspielte.
Sie hörten die Nachricht eines Klempners sowie die vomBand abgespulten Werbesprüche eines lokalen Anbieters für irgendetwas. Dann rauschte das Band nur noch leer.
»Hier in der Klinikpost war auch nichts«, berichtete Jeffers.
»Zu Hause wird sie allerdings erst so um vier ausgeliefert.«
»Scheiß auf die Post«, meinte Detective Barren ausdruckslos.
»Er schickt Ihnen keine Ansichtskarten.«
»Hat er früher getan.«
»Und wenn schon? Dann sind wir ihm vier, fünf Tage hinterher.«
»Aber wir wüssten immerhin, in welche Richtung er will.«
Das war nicht von der Hand zu weisen. Dennoch nahm die Frustration bei ihr überhand. »Scheiß auf die Post«, wiederholte sie und seufzte. »Was ist mit Ihren Erinnerungen? Davon verspreche ich mir mehr.«
»Ich habe wirklich geglaubt, er wäre da«, beteuerte Martin Jeffers. »Ich war mir sicher, dass er in New Hampshire sein muss. Es schien der logischste Ausgangspunkt zu sein.«
»Dann denken Sie eben noch einmal nach.«
Er legte den Kopf zurück. »Sind Sie nicht auch erschöpft?«, fragte er. »Verflucht, wir stehen ziemlich unter Druck. Ich kann bald nicht mehr klar denken. Wollen Sie nicht auch eine Pause einlegen?«
»Das mache ich, wenn es vorbei ist.«
Martin Jeffers nickte.
Er wusste, dass sie erst Ruhe geben würde, wenn sein Bruder – und an der Stelle stockte er. Er würde nicht beim Namen nennen, was sie plante.
»Sie haben recht«, gab er nach. »Ich bleib dran.«
Er sah, wie sie sich kaum merklich entspannte.
Nach einer Weile sagte er: »Eigentlich ist es unmöglich.«
»Was?«
»Die Vorstellung, dass man zu jedem beliebigen Zeitpunktwissen sollte, wo der eigene Bruder gerade steckt. Oder auch die Schwester.«
Er fand die Bemerkung provozierend, doch er führte seine Antwort unverdrossen aus: »Bei Kindern vielleicht. Als wir klein waren, wusste ich es immer. Bis zum Ende der Highschool hätte ich meistens sagen können, wo er steckt. Doch als wir erwachsen waren, na ja, Erwachsene gehen ihre eigenen Wege. Wir werden unabhängig. Jeder führt sein eigenes Leben. Man wird mehr man selbst und weniger der Bruder oder die Schwester von jemand anderem.«
Sie schüttelte irritiert den Kopf.
»Halten Sie mir keine Vorträge. Das stimmt nicht. Ihr eigener Berufsstand lehrt doch, dass der Erwachsene hinter seinem Alter, seinem Verantwortungsgefühl und seiner Moral all die Wünsche des Kindes versteckt. Also versetzen Sie sich zurück! Denken Sie wie damals, nicht wie heute!«
Sie funkelte ihn mit rotgeränderten Augen an, in denen sich Anspannung und Erschöpfung die Waage hielten.
Sie hatte vollkommen recht, räumte er innerlich ein.
Statt einer Antwort stand er auf und umkreiste sie nervös. »Ich versuch’s ja, ich versuch’s ja. Mir schwirren alle möglichen Assoziationen durch den Kopf. Aber Brüder, die zusammen aufwachsen, teilen Hunderte gemeinsamer Erlebnisse, was sage ich, Tausende, und jetzt soll ich sagen können, was davon bei ihm in diesem Moment den Ausschlag gibt?«
»Sie wissen es«, beharrte sie, »Sie sind nur blockiert.«
Er lächelte. »Das hätte von mir stammen können.«
Detective Mercedes Barren hob die Hände ans Gesicht und versuchte, die Erschöpfung wegzureiben. Sie lächelte schwach. »Sie haben recht«, meinte sie. »Tut mir leid. Manchmal will ich zu sehr mit dem Kopf durch die Wand.«
Ihr Bekenntnis überraschte ihn.
»Aber Sie liegen gar nicht verkehrt«, antwortete er. »Wahrscheinlich bin ich tatsächlich blockiert.«
Er erwiderte ihr Lächeln.
Martin Jeffers sah die Polizistin an. Es zog ihm den Magen zusammen, wenn er daran dachte, wie verzweifelt sie sein musste. Einen Moment lang hatte er den Impuls, sie in die Arme zu nehmen, damit sie sich an der Schulter des jeweils anderen ausweinen konnten – Tränen für die Lebenden, Tränen für die Toten, Tränen für sämtliche Erinnerungen. In einer Mischung aus Wut und Trauer über den Grund, der sie zusammengebracht hatte – in diesem kleinen Raum, in der ständig wechselnden Welt seines Bruders. Er merkte, wie er schon den Arm ausstrecken wollte, um sie zu berühren, doch im selben Moment zog er seine Hand zurück und steckte sie stattdessen in die Tasche seines weißen Kittels, während er fragte: »Detective, was werden Sie tun, wenn das hier vorbei ist?« Er hielt die andere Hand hoch, um der offensichtlichen Antwort
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