Der Frauenjäger
tastete noch einmal nach dem scharfkantigen Stein in der Jackentasche. Völlig wehrlos war sie jedenfalls nicht, wechselte vorsichtig auf die andere Seite und kroch wieder in diesen grausamen Gestank hinein.
Auf der Grabensohle musste ein ganzer Berg von durchtränktem Einwickelpapier liegen. Oder ein verendetes Tier, das sich hierher verirrt hatte und zugrunde gegangen war. Ein Fuchs vielleicht oder etwas Größeres. Unweigerlich hatte sie wieder den vermeintlichen Ast mit dem Knubbel vor Augen, den ein Mediziner wohl Hüftkopf genannt hätte. Welches Tier hatte denn einen so geformten Oberschenkelknochen?
Zögernd bewegte sie sich weiter auf das schwache Glimmen zu. Der Mistkerl war doch eindeutig in der besseren Position, garantiert nicht müde und nicht durstig. Satt und zufrieden stand er da. Und wenn er mehr dabeihatte als eine verfluchteInfrarotkamera? Was sollte sie mit ihrem Stein gegen ein Messer oder eine andere Waffe ausrichten?
«Scheiße, Scheiße, Scheiße», murmelte sie und wurde mit den verlockenden Geräuschen des Wassers in den Ohren immer langsamer – bis ihr der Riemen zwischen die Finger geriet.
15. Januar 2010 – Freitagnachmittag
Es war schon zehn nach vier, als Marlene die Espressobar in den Markthallen des Kölner Hauptbahnhofs erreichte. Die S-Bahn hatte Verspätung gehabt. Fischer wartete bereits an einem der Stehtische, vor sich hatte er einen Kaffee. Bei seinem Anblick hätte sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht.
In der Bahn hatte sie überlegt, ob sie ihm erklären müsste, was, vielmehr wer sie zu der Geschichte vom mysteriösen Fremden, der auf Parkplätzen und in Einkaufscentern einsame Frauen ansprach und mit dem Auto verfolgte, veranlasst hatte. Oder wie sie reagieren sollte, wenn er das Thema anschnitt. Am Ende hatte er im Sender angerufen und sich erkundigt, ob ihr Van keine Zentralverriegelung hatte. Wie peinlich.
Aber Karola in die Pfanne hauen und zugeben, dass sie einfach nachgeplappert hatte, was ihr vorgesagt worden war, wäre noch peinlicher. Damit drückte sie sich doch selbst den Stempel auf die Stirn:
Ich bringe allein nichts auf die Reihe
.
Fischer grinste ihr entgegen, wahrscheinlich hielt er das für ein freundliches Lächeln. Er wartete noch, bis sie sich mit einem Latte macchiato versorgt hatte. Dann zückte er wie in der Bücherstube Kugelschreiber und Notizblock und erklärte: «Bei der Geräuschkulisse hier ist mir die altbewährte Methode lieber als ein Aufnahmegerät.»
«Sie brauchen weder das eine noch das andere», sagte Marleneund kam ohne Umschweife zur Sache. «Ich habe Sie am Telefon nicht belogen. Ich habe Heidrun Merz am Mittwochabend zum ersten Mal gesehen und weiß von Mona Thalmann entschieden weniger als Sie. Es war eine blöde Situation im Studio. Da saß ja auch der Pressesprecher der Kreispolizei. Ich wollte Karola, ich meine Frau Jäger, nicht öffentlich widersprechen, als sie …»
Die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit – wenigstens in diesem Punkt. Wie hätte sie ihm sonst begreiflich machen sollen, dass sie ihm absolut nichts erzählen konnte?
Er hörte mit leicht gerunzelter Stirn zuerst misstrauisch, dann aufmerksam zu, trank hin und wieder einen Schluck Kaffee. Notizen machte er keine, stellte nur ein paar Fragen, als sie zum Ende kam. Unter anderem wollte er wissen, ob Heidrun Merz beim Italiener noch etwas von Bedeutung erzählt hatte.
«Aber sicher», antwortete Marlene und behauptete, nicht ganz den Tatsachen entsprechend: «Sie hat uns erklärt, dass Mona sich von einer Mitarbeiterin der Agentur Sirius in die Oper, ins Theater, zu Konzerten und so weiter begleiten ließ und dass es durchaus im Buch erwähnt ist. Man muss nur ein klein wenig Allgemeinbildung haben, um den Hinweis zu entdecken.»
«Mitarbeiterin», wiederholte Fischer süffisant, auf den Seitenhieb mit der fehlenden Allgemeinbildung ging er nicht ein. «Wer’s glaubt, wird selig, und wer’s nicht glaubt, kommt auch in den Himmel.» Er trank einen Schluck Kaffee. «Und sonst?», fragte er, als er die Tasse wieder abstellte. «Was ist mit dem Labor, in dem das Tonband untersucht worden sein soll? Hat Frau Merz das Ergebnis erwähnt? Oder was hat Sie auf die Idee gebracht, gestern im Studio zu erklären, dass spezielle Labors gelöschten Bandsequenzen noch wichtige Hinweise entlocken können?»
«Das habe ich in einem Thriller gelesen», gestand Marlene. «Aber es gibt wirklich Labors, die so etwas
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