Der Frauenjäger
«Deine Frau war so nett, einen gestrandeten Wal aufzunehmen.»
«Er lügt!», rief Marlene. «Ausgenommener Hering trifft es besser.» Sie hörte Werner lachen, obwohl sie einen halben Meter von Andreas entfernt stand.
Während die beiden Männer sich unterhielten, ging sie nach oben und machte sich ausgehfertig, um Pfefferminztee, Kamillentee, Fencheltee, Zwieback und alles, was Andreas sonst noch brauchte, zu besorgen. Aber er brauchte nichts, wollte – wie er erneut betonte, als sie ihn fragte – keine Umstände machen.
Sie fuhr trotzdem los, kaufte drei verschiedene Sorten Tee,Zwieback, Salzstangen, Bananen, Haferflocken und alles, was ihr sonst noch zu einem verdorbenen Magen einfiel.
Als sie zurückkam, saß Andreas immer noch in der Küche, hörte sich die Sendung seiner Frau an und las gleichzeitig in dem Buch, das sie auf dem Tisch hatte liegenlassen.
«Starker Tobak», meinte er, während sie Wasser aufsetzte und einen Beutel Kamillentee in einen Becher hängte. «Ich hätte nie gedacht, dass du auf schrägen Sex stehst, Lenchen.»
«Tu ich auch nicht», erwiderte sie, nahm zwei Zwieback aus dem Päckchen, legte sie auf einen Teller und überlegte, ob sie beim Thema bleiben sollte, um herauszufinden, ob Karola letzten Donnerstag überhaupt ein wahres Wort von sich gegeben hatte. Warum eigentlich nicht? Wo er damit begonnen hatte, bot es sich an, also sprach sie weiter: «Werner zum Glück auch nicht. Er käme nie auf die Idee, es im Waschraum einer öffentlichen Toilette, in einer Kiesgrube oder während einer Fahrt auf der Autobahn zu treiben.» Sie war stolz auf sich, weil sie die Kiesgrube so brillant in die Mitte gelegt hatte, als gehöre die zu Monas Geschichte.
Andreas wirkte nur für eine Sekunde irritiert, dann begann er zu grinsen. «Kiesgrube?», wiederholte er. «Das hast du aber nicht aus dem Buch, oder?»
«Nein, davon hat Karola mir erzählt.»
«In allen schockierenden Einzelheiten?», wollte er unverändert grinsend wissen, peinlich war es ihm keinesfalls.
«Woher soll ich das wissen?», fragte Marlene. «Ich war doch nicht dabei, folglich kenne ich die Einzelheiten nicht.»
Sie schob ihm den Teller mit Zwieback hin. «Hier. Du musst etwas essen. Zwieback schadet deinem Magen bestimmt nicht.»
Er machte keine Anstalten, einen Zwieback zu nehmen. «Sollen wir mal vergleichen?», fragte er. «Ich zähle auf, was mir noch im Gedächtnis ist, und du stellst fest, ob Karola etwas vergessenoder etwas dazugedichtet hat. Oder du erzählst mir, was du von Karola gehört hast, und ich ergänze oder streiche.»
«Sie hat kein gutes Haar an dir gelassen», wich Marlene aus.
«Das darf auch keiner erwarten, der seine Frau mit zwei Kindern Knall auf Fall sitzenlässt», erwiderte er ernsthaft. «Jetzt komm schon, Lenchen. Mach’s nicht so spannend. Was hat sie erzählt?»
Marlene nahm ihm den Teller weg, schob ihm stattdessen das offene Päckchen zu und schlug vor: «Für jeden Zwieback eine Geschichte.»
Er gab sich verwundert. «Was denn? So viele? Ich dachte, sie hätte nur von der Kiesgrube erzählt.»
«Wo denkst du hin», sagte Marlene. «Auch von Ameisenhaufen, von blauen Büstenhaltern mit rosa Röschen und Blutstropfen. Von freien Tagen, an denen du in Düsseldorf Abenteuer gejagt hast. Wenn Karola anfängt, findet sie kein Ende.»
Er zog den Teller wieder zu sich heran, nahm einen Zwieback und verlangte: «Leg los. Am besten fängst du mit der Jagd in Düsseldorf an. Die Geschichte kenne ich nämlich gar nicht.»
Er begann zu knabbern, während Marlene ihm erzählte, was Karola bei der Lektüre von
Monas Tagebuch
förmlich ins Auge gesprungen war. Sie dachte, es hätte ihn ebenso wütend gemacht wie Annette, aber er amüsierte sich anscheinend nur, betrachtete das bleiche, hohläugige Frauengesicht auf dem Buchcover und meinte: «Das klingt fast, als sei meine Cleo wieder zum Leben erwacht. Sollte sie von den Toten auferstanden sein, als sie plötzlich für sich selbst sorgen musste?»
Der Spruch hatte etwas, fand Marlene. Zum Leben erwacht! Und zum Tode verurteilt, wenn einem jede Sorge abgenommen wurde.
Bis Karola sich kurz vor zwölf von ihren Hörerinnen und Hörern verabschiedete, saßen sie in der Küche, lauschten den Wortbeiträgen und unterhielten sich während der Musikeinspielungen.Er stellte Fragen, Marlene antwortete. So sprach die meiste Zeit sie, auch über den Mittwoch der vergangenen Woche, über Heidrun Merz und deren Erklärung zu Andy, dem Jäger, und
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