Der Frauenjäger
Mütze und Handschuhe. Alles war ihr viel zu groß. Bei dem Strickzeug machte das nichts, bei Hosen und Mantel störte es auch nicht, im Gegenteil. Die beiden Hosen zog sie übereinander an und schnürte sie mit einem Ledergürtel auf ihre Taillenweite. Der Mantel war weit genug, um über ihrer Steppjacke getragen zu werden, ohne dass sie sich zu sehr eingeengt fühlte.
Nur die Stiefel waren ihr nicht geheuer, weil ihre tauben Füße darin keinen richtigen Halt fanden. Sie rutschten bei jedem Schritt vor und zurück. So würde sie nicht schnell genug vorankommen. Aber es musste auch irgendwo Strümpfe geben – vielleicht in den kleinen Kommoden neben dem Doppelbett.
Beide Kommoden lagen im Halbdunkel unter der Dachschräge, deshalb sah Marlene das Telefon erst, als sie unmittelbar davor stand. Ein Mobiltelefon im Ladegerät, dasselbe Modell, das Annette in der Bücherstube hatte. Und es war in Betrieb. Sie starrte es ungläubig an, nahm es in die Hand, drückte auf die Taste mit dem grünen Hörersymbol und lauschte fassungslos dem Dauerton, ehe ihre Finger sich selbständig machten.
Jede andere in ihrer Situation hätte höchstwahrscheinlich den Notruf gewählt. Man rief nun mal die Polizei, wenn man in Gefahr schwebte, dringend Hilfe brauchte und seine Sinne noch alle beisammenhatte. Dann sagte man Sätze wie: «Bitte kommen Sie schnell. Ich wurde entführt und bin jetzt …»
Da hakte es bei ihr bereits. Sie wusste doch nicht genau, wo sie war. Irgendwo in der Eifel, nahm sie an. Mitten im Wald. Im Haus der Kräuterhexe, die einen heranwachsenden Sohn haben musste. Wahrscheinlich konnte sie deshalb nur sporadisch einen Mann aufnehmen, der Frauen unter die Erde brachte.
Sie war am Ende ihrer psychischen und physischen Kräfte, hatte in den letzten Stunden mehr Schrecken, Furcht und Entsetzen durchlebt als zuvor in den gesamten zweiundvierzig Jahren ihres Lebens. Sie war verletzt, verwirrt, stand wohl auch unter Schock, weil die DVD mit der Nummer acht ihr drastisch vor Augen geführt hatte, dass Barbara König nie mehr wie blöd herumhuren würde.
Und sie war immer noch überzeugt, dass Andreas sie hergebracht hatte, sah gar keine andere Möglichkeit. Das machte es zu einer Privatsache, die man erst mal untereinander regelte, sobald man die Chance dazu bekam.
Mit zwei Salamibroten im Leib und zwei alten Mullbinden um die Knie fühlte sie sich auch durchaus imstande, sich selbst zu befreien. Wozu hätte sie noch die Polizei zu Hilfe rufen sollen? Sie musste doch nur durch eins der Fenster im Erdgeschoss ins Freie steigen. Was spielte es für eine Rolle, dass sie vor jedem dieser Fenster – im Wohnzimmer gab es auch zwei – nur verschneite Nadelbäume und rauen Fels gesehen hatte? Wo ein Haus stand, musste ein Weg sein.
Und wie hätte sie einem fremden Polizisten erklären sollen, wer sie in diese Lage gebracht hatte? «Eine Freundin hat mich gebeten, einen Freund aufzunehmen. Mein Mann war auf Geschäftsreise …» Und in ihrem Hinterkopf fragte der Pressesprecher der Kreispolizei: «Haben Sie nichts Besseres zu tun?»
21. Januar 2010 – Donnerstag
Morgens verschmähte Andreas den Zwieback, aß zum Frühstück zwei Toasts mit Konfitüre, trank dazu Milchkaffee wie Marlene und behauptete, es gehe ihm entschieden besser. Kein Wunder, fand sie. Er hatte den halben Mittwochnachmittag verschlafen, während sie ein bisschen Hausputz gemacht hatte. Zum Abendessen hatte er etwas Haferbrei gegessen und offenbar eine sehr ruhige Nacht gehabt. Jedenfalls hatte sie ihn nicht einmal oben herumlaufen hören.
Wieder blieben sie den ganzen Vormittag in der Küche, hörten sich Karolas Sendung an und unterhielten sich. Doch wo und wie er sich die dreieinhalb Jahre vertrieben hatte, erfuhr Marlene auch diesmal nicht. «Es war nicht halb so romantisch und abenteuerlich, wie du es dir wahrscheinlich vorstellst», blockte er jede diesbezügliche Frage ab.
Da er für ihr Empfinden gut gefrühstückt und anschließendnicht über Beschwerden geklagt hatte, machte sie zu Mittag ein großes Bauernomelett. Viel davon aß er allerdings nicht. «Tut mir leid, Lenchen. Es schmeckt wirklich so lecker, wie es riecht und aussieht. Aber den Rest musst du alleine essen. Bei deiner Figur kannst du dir doch eine doppelte Portion Bratkartoffeln leisten.»
«Das sind keine Bratkartoffeln, du Banause.»
«Es sieht aber so aus. Und zu viel Gebratenes verträgt mein Magen offenbar noch nicht. Wenn es dir nichts ausmacht, würde
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