Der Frauenjäger
nichts wie weg hier!
Aber nicht so! Nicht auf nackten Füßen hinaus in den Schnee, mit nackten Beinen unter einem Vorhang, der nur Trippelschritte erlaubte.
Sie wandte sich der Treppe zu in der Hoffnung, oben etwas zu finden, womit sie sich besser vor der Kälte draußen schützen konnte. Vor allem brauchte sie Schuhe oder Stiefel.
20. Januar 2010 – Mittwoch
Obwohl Marlene kaum etwas von dem glaubte, was Karola letzten Donnerstag von sich gegeben hatte, und obwohl Andreas derzeit total erschöpft, halb verhungert und von einer Lokalanästhesie außer Gefecht gesetzt war, schlug sie sich die halbeNacht mit blutigen Büstenhaltern und hohläugigen Anhalterinnen herum, die mit gebrochenen Beinen am Straßenrand lagen und jammerten, weil sie sterben mussten.
Einmal tanzte sie selbst splitterfasernackt inmitten einer Horde haariger Affen um ein offenes Cabrio herum. Andreas saß auf der Motorhaube und rauchte eine Zigarette. Und neben dem Auto war ein Wasserloch, in dem ein großes Krokodil darauf lauerte, dass sie durstig wurde und trinken wollte.
Eine erholsame Nacht war es wahrhaftig nicht. Nach jedem dieser Träume lag sie geraume Zeit wach und horchte nach oben. Aus dem Dachgeschoss war kein Laut zu hören. Man hätte meinen können, es sei überhaupt niemand da.
Werners Radiowecker hatte sie abgestellt, aber nicht daran gedacht, mit Johannas Wecker ebenso zu verfahren. Der gab ein rhythmisches Zirpen von sich, das allmählich an Lautstärke zulegte, bis jemand auf den Knopf drückte. Als Marlene gegen sechs von dem Geräusch aufwachte, war es schon so laut, dass Andreas es im Dachgeschoss auch nicht überhören konnte.
«Warum bist du denn schon so früh auf den Beinen, Lenchen?», rief er, als sie im Schlafanzug über den Flur tappte. Er klang entschieden munterer als am Vorabend. Vielleicht hatte ihn wirklich nur das Anästhetikum schachmatt gesetzt.
«Um den Wecker abzustellen», gab sie zurück.
«Heißt das, du legst dich nochmal hin?», wollte er wissen.
Das hätte nicht viel Sinn gehabt. Sie fühlte sich wieder mal, als hätte man sie unter Strom gesetzt. «Zwecklos», rief sie. «Ich mache ein bisschen Gymnastik und dann Frühstück, einverstanden? Du müsstest doch eigentlich ausgeschlafen sein und Hunger haben wie ein Wolf im Winter. Willst du Kaffee oder Tee?»
Sie hörte seine Schritte über ihrem Kopf, er ging zu dem kleinen Duschbad hinüber und rief dabei: «Tee. Kamille, Pfefferminz oder Fenchel. Hast du was in der Art?»
«Muss ich nachsehen», antwortete sie, dabei konnte sie Kamille und Fenchel auf Anhieb ausschließen.
«Lass dir Zeit», rief er noch. «Ich geh nur kurz dahin, wohin der Papst immer alleine geht. Dann werfe ich mich nochmal in Morpheus’ Arme und dreh eine letzte Schlummerrunde.»
Kurz nach neun hatte er endlich ausgeschlafen und ging unter die Dusche. Karola war bereits seit einer halben Stunde auf Sendung, als er schließlich in der Küche auftauchte. Bekleidet mit einer Camouflagehose und einem vergrauten T-Shirt , beides hatte ihm vermutlich mal gepasst, schien aber jetzt drei Nummern zu groß. An den Füßen trug er dicke Wollsocken, die wie selbstgestrickt aussahen. Die dunklen, von grauen Strähnen durchsetzten Haare waren noch feucht und ließen ihn wie einen alten Mann aussehen. Dazu passte auch seine leicht vorgebeugte Haltung. Trotzdem sah er etwas besser aus als tags zuvor.
Weil sie keinen Lärm mit dem Staubsauger hatte machen wollen, saß Marlene mit dem letzten Schluck Milchkaffee und
Monas Tagebuch
am Tisch. Andreas nahm ihr gegenüber Platz und erkundigte sich: «Oder ist es dir unangenehm, wenn ich mich hier unten aufhalte?»
«Warum sollte mir das unangenehm sein?»
Er zuckte mit den Achseln und grinste kläglich. «Was weiß ich? Wenn jemand kommt oder von draußen einer reinguckt.»
«Hier kann keiner reingucken», versicherte sie. «Es wird auch keiner kommen. Soll ich dir jetzt einen Tee machen?»
Er nickte und lauschte Karolas Stimme, die ihrer Zuhörerschaft wie immer frisch und munter die beste Musik und interessante Themen versprach. «Bleiben Sie dran, ich zähle auf Sie.»
«Sie macht das wirklich gut», sagte er anerkennend, währendMarlene den Wasserkocher füllte. «Als Julchen mir erzählte, Mutti arbeitet im Radio, dachte ich, sie hätte da eine Putzstelle.»
«Wir haben alle den Kopf geschüttelt, als sie sich für den Job beworben hat», erzählte Marlene. «Die suchten einen jungen Moderator, der ins Team passte.
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