Der Frauenjäger
den Mülleimer und fragte sich, warum Ulla frühmorgens zum Krankenhaus gefahren sein mochte.
An einem Klinikbett sitzen und Händchen halten passte nicht zu ihr. Das hatte Ulla nicht mal gemacht, als ihrer Mutter letztes Jahr eine Brust entfernt worden war. Da hatte sie zwar Urlaub genommen, aber jeden Tag zum Krankenhaus gefahren war Marlene. Die kleine Meike hatte sie mitgenommen, damit die ihrer Oma gut zuredete, schnell wieder gesund zuwerden. «Wenn du nicht da bist, ist es ganz doof, Oma. Mama kocht nicht so leckere Sachen und liest mir keine Geschichten vor.»
Bei Thomas hätte viel eher Matthias diesen Part übernommen. Nur konnte der im Einkaufscenter nicht so ohne weiteres über seine Zeit verfügen. Ulla konnte sich bei Scheidweber & Co mehr herausnehmen. Kurz anrufen und erklären: «Ich komme heute später.» Keiner hätte Einwände erhoben. Die Geschäftsleitung war doch froh, dass Ulla überhaupt kam und dem Neuen auf die Finger schaute.
Im Radio sprach Karola über einsame Frauen, depressive Frauen, Frauen mit Todessehnsucht und merkwürdigen Liebhabern. Passend zum Thema wurde
The Ballad of Lucy Jordan
gespielt. Wie immer, wenn sie diesen Song hörte, fühlte Marlene sich seltsam berührt, hatte den Staubsaugerschlauch und das Auspuffrohr vor Augen und schämte sich in Grund und Boden.
Ob Ulla jetzt in der Firma war? Kaum anzunehmen, es war erst Viertel vor elf, noch lange nicht Mittag. Um sich mit einem Buch ins Wohnzimmer zu setzen, war es auch noch viel zu früh. Lesen war eine Beschäftigung für endlos langweilige Nachmittage und die Wartezeit am Abend. Höchstens noch akzeptabel, um bei der letzten Tasse Kaffee vom Frühstück den Morgen um ein halbes Stündchen zu verlängern. Vormittags hätte es ihr zu deutlich vor Augen geführt, dass es für sie nichts Besseres mehr zu tun gab, als Zeit totzuschlagen.
Ersatzweise rief sie kurz nach elf ihre Eltern an. Die saßen noch beim Frühstück. Ihr Vater war seit drei Jahren Rentner und tat seitdem, was er vorher angeblich nie hatte tun können, ausschlafen. Ihre Mutter schlief begeistert mit, geschlafen hatte sie schon immer mit Leidenschaft.
Annettes Spaßvogel hatte mal einen der Witze darüber gemacht, über die keiner lachen konnte. «Eines Tages könnt ihrauf den Grabstein deiner Mutter setzten lassen: Herr, gib ihr die ewige Ruhe, sie hat schon immer gerne geschlafen.»
Vom Grabstein war ihre Mutter noch weit entfernt, ihr Vater genauso. Eine lange Reihe von Großeltern und Urgroßeltern auf beiden Seiten bewies, dass es in ihrer Familie die Regel war, steinalt zu werden. Ein Urgroßvater war hundertdrei geworden. Als Jüngste waren die Großmutter, die ihr das Stopfei hinterlassen hatte, und der dazugehörige Großvater mit zweiundsiebzig und fünfundsiebzig gestorben – aus reiner Schusseligkeit. Großmutter hatte sich abends noch einen Tee aufgebrüht und offenbar das Gas nicht richtig abgedreht. Großvater verdiente als Nachtwächter etwas zur Rente dazu. Als er morgens nach Hause kam und das Licht einschaltete … So hatte die Polizei es rekonstruiert.
Mit Krankheiten oder Gebrechen plagte man sich in ihrer Familie nicht. Eines Tages wachte man einfach nicht mehr auf wie der hundertdreijährige Urgroßvater, oder man fiel bei der Apfelernte tot von der Leiter wie ein achtundneunzigjähriger Urgroßvater. Oder man sprengte sich versehentlich in die Luft.
Ihre Eltern waren bei bester Gesundheit, erkundigten sich nach Werner und den Kindern. Von Ullas Sohn wollten sie nichts hören und am Nachmittag eine Wanderung mit früheren Arbeitskollegen ihres Vaters machen. Es fror zwar, aber die eisige Luft stählte die körpereigene Abwehr.
Nach wenigen Minuten beendete Marlene das Gespräch, weil sie nicht mehr sagen konnte als: «Viel Spaß.»
Es war noch zu früh zum Kochen, trotzdem begann sie, das Mittagessen vorzubereiten. Die Woche über lohnte sich das nur mittwochs und freitags. Dabei hatte es ihr früher so viel Spaß gemacht, am Herd mit Werner zu konkurrieren und ihn zu übertreffen, ausgefallene Rezepte zu probieren oder mit wenigen Zutaten und viel Phantasie etwas auf den Tisch zu bringen.
Solange noch eines der Kinder zur Grundschule gegangen war, hatte sie zweimal täglich gekocht, mittags die Phantasie spielen lassen und für den Abend, wenn Werner mit am Tisch saß, ihre Kartensammlung durchstöbert. Sie hatte damals Rezeptkarten abonniert, besaß ein Sortiment von Kerzenständern und anderen Tischdekorationen,
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