Der Frauenjäger
geschrieben.
Der Mann war zur Arbeit, die Kinder zur Schule. Und sie … konnte wie Lucy Jordan das Haus sauber machen, wischen und saugen, wo nichts wirklich schmutzig war. Sie konnte sich mit den Zimmerpflanzen beschäftigen. Der Garten war Werners Refugium. Darum kümmerte er sich, wenn nötig, am Wochenende. Er brauchte Rasen mähen, Rosen beschneiden, Unkraut zupfen und Löwenzahn stechen zur Entspannung. Vielleicht auch, um sich selbst zu beweisen, dass er noch mit den Händen arbeiten konnte und nicht mit seinem Erfolg abgehoben hatte, dass er eben noch dazugehörte.
Sie hätte sich auch nackt ausziehen und schreiend durch die Straßen laufen können, wie Lucy Jordan es in Erwägung gezogen hatte. Aber wer wollte denn in die Klapsmühle eingewiesen werden? Stattdessen lief sie durchs Haus, treppauf, treppab, setzte sich mal zehn Minuten vor den Fernseher, mal für eine Viertelstunde mit einem Buch auf die Terrasse und bekam das Lied einfach nicht aus dem Kopf.
The evening sun touched gently on the eyes of Lucy Jordan …
Möglicherweise hatte sie das Ende falsch übersetzt oder ihre Übersetzung falsch interpretiert. Vielleicht war wirklich eine große Limousine mit Fahrer gekommen und Lucy gar nicht vom Dach gesprungen, sondern ganz normal ins Auto eingestiegen. Das Dach wäre ihr persönlich auch viel zu unsicher gewesen. Am Ende brach man sich nur wichtige Knochen und saß den Rest seines Lebens im Rollstuhl. Aber die Garage, das Auto, ein Schlauch vom Auspuff ins Wageninnere …
Sie hatte eine Weile überlegt, ob der Schlauch vom Staubsauger wohl auf das Auspuffrohr passte und lang genug war, um durch die Seitenscheibe der Fahrertür gesteckt zu werden. Die hinteren Seitenscheiben waren nicht zu öffnen.
Ehe sie es ausprobieren konnte, war unerwartet früh Leonard nach Hause gekommen und hatte schon in der Diele gerufen: «Krieg keinen Schreck, Mama! Es ist nicht halb so schlimm, wie es aussieht.»
Ein kleiner Unfall in der Sportstunde. Eine blutende Nase, eine aufgeplatzte Lippe und eine Platzwunde am Kinn, die nach Meinung des Lehrers genäht werden sollte. Sie war mit ihrem Sohn in die Garage gegangen, mit ihm ins Auto gestiegen, mit ihm zum nächsten Krankenhaus gefahren. Und sie hatte gewusst, dass sie noch gebraucht wurde.
13. Januar 2010 – Mittwochvormittag
Nachdem Johanna und Leonard sich auf den Weg zur Schule gemacht hatten, schlüpfte Marlene in warme Kleidung und befreite als Erstes den Gehweg vor ihrem Grundstück von der frischen Schneedecke. Der Nachbar zur Linken, ein Pedant wieaus dem Bilderbuch, war damit schon fertig und hatte auch Sand gestreut.
Anschließend griff sie zum Telefon und probierte, Ulla auf deren Handy zu erreichen. Das war nicht eingeschaltet. Vermutlich hatte Ulla es gestern Abend für einen Besuch im Krankenhaus ausgemacht und vergessen, es wieder in Betrieb zu nehmen, ehe sie zur Arbeit fuhr. Wie kam Ulla jetzt überhaupt ins Industriegebiet? Matthias hatte seit Jahren kein Auto mehr, das er ihr zur Verfügung hätte stellen können.
Beim nächsten Versuch in Ullas Büro, eine halbe Stunde später, hörte Marlene vom neuen Leiter der Fertigungsabteilung, Frau Kranich werde heute erst gegen Mittag in der Firma erwartet. Nach dem Grund mochte sie den Mann nicht fragen.
Sie wählte den Privatanschluss und geriet wieder an Ullas Mutter. Die fing prompt erneut an zu weinen und schluchzte: «So ein Unglück», ehe sie erklärte, Ulla sei um halb sieben ins Krankenhaus gefahren. Darauf folgten ein paar von weiteren Schluchzern zerhackte Worte. Marlene verstand nur noch: «Der arme Junge. Was soll denn jetzt werden?»
Der dumme Junge, dachte sie. Was ging nur vor in solchen Hirnen? Man nahm nicht Mutters Autoschlüssel und setzte sich bekifft hinters Steuer, wenn man mit einem miserablen Zeugnis nur dank Mutters Bemühungen einen Ausbildungsplatz ergattert hatte. Man raste nicht mit siebzig über vereiste Straßen, wenn man seine Sinne beisammen und noch alle Tassen im Schrank hatte. Aber in Thomas Kranichs Oberstübchen vermuteten Johanna, Kirsten Barlow und Julia Jäger seit langem gewaltige Lücken.
Es widerstrebte Marlene, die aufgelöste alte Frau weiter zu bedrängen. In der Hoffnung, dass Annette in der Zwischenzeit von Matthias etwas Genaueres erfahren hatte, rief sie lieber anschließend in der Bücherstube an und hörte, da käme garantiert noch ein dickes Ende nach.
«Das war ja nicht seine erste Tour», erinnerte Annette. «Wenn die
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