Der Frauenjäger
mit denen sich eine schlichte Mahlzeit zu einem Erlebnis machen ließ. Aber dann hatte es sich nicht mehr gelohnt.
Montags, dienstags und donnerstags ging der Unterricht für Johanna und Leonard bis um halb vier, dann aßen sie in der Schule. Große Ansprüche an ihre Ernährung stellten beide nicht. Und sie hatte sich eingebildet, mit ihren Rezeptkarten und einer Batterie von Kochbüchern Gourmets aus ihnen zu machen.
Eine Weile hatte sie noch für abends gekocht, meist nur für sich und die Kinder. Seit Werner selbständig war, aß er in der Regel irgendwo unterwegs. Johanna wurde mit der Pubertät eitel, empfand eine zweite warme Mahlzeit als Belastung für die Figur. Und Leonard entdeckte ein Fastfoodrestaurant, das mit dem neuen Mountainbike in acht Minuten zu erreichen war.
Seitdem genügte es, wenn sie wochentags Brot, Käse und ein bisschen Wurstaufschnitt bereithielt. Dazu Essiggürkchen, Silberzwiebelchen und eingelegte Maiskölbchen, und jeder war zufrieden, sogar Werner, wenn er es nicht geschafft hatte, irgendwo unterwegs etwas zu essen. Ihr Vorratsschrank und der Gefrierschrank waren zwar immer gut gefüllt, weil es ihr bisher nicht gelungen war, sich bei den Einkäufen vollkommen umzustellen. Doch dass sie sich spätabends noch für ihn an den Herd stellte, hätte Werner als Zumutung empfunden.
Nummer neun
Aus einem unerfindlichen Grund hatte Marlene plötzlich Werners altes Autoradio vor Augen. Es hatte ein Kassettenteil gehabt, das am Bandende automatisch die Seiten wechselte und deshalb immer dieselbe Kassette abspielte, solange die nicht gewechselt wurde. Da hatte man nach einer oder anderthalb Stunden wieder dieselben Lieder gehört, natürlich nicht nur ein einziges.
Eine Kassette mit nur einem Lied, das zwanzigmal oder öfter hintereinander lief, hatte Christoph vor endlosen Jahren für Annette bespielt. Bruce Springsteen:
I’m on Fire
.
«Hey, little girl, is your Daddy home.»
Annette hatte damals gesagt, das könnte sie stundenlang hören. So war Christoph zu einem originellen und preiswerten Geburtstagsgeschenk für sie gekommen.
So schnell wie die Erinnerung aufstieg, erlosch sie auch wieder. Normalerweise dachte Marlene zu viel, war dabei oft melancholisch und manchmal chaotisch. Ulla hatte neulich gesagt, sie komme so rasch vom Hölzchen aufs Stöckchen, dass man ihren Gedankensprüngen nicht folgen könne. Aber noch stand sie unter Schock, und es war, als hätte eine gnädige Macht diese Fähigkeit in ihrem Hirn abgeschaltet, weil es besser war, jetzt nicht zu denken.
Übers Denken konnte man in völliger Schwärze leicht den Verstand verlieren. Da hätten nur die Fragen auftauchen müssen: Wo bin ich? Warum bin ich hier? Wie bin ich hergekommen, und wie komme ich wieder weg, wenn ich nichts sehe und mir keiner hilft? Die Antworten hätten verheerende Auswirkungen haben können, solange ihre angeschlagene Psyche von den letzten Energiereserven zehrte, die noch in ihr waren. Ehe sie zu denken beginnen konnte, musste ihr Verstand erst einen Hoffnungsschimmer sehen und daraus neue Kräfte schöpfen.
Sie schob sich nur vorwärts, mit Lucy Jordans nutzlosem Leben und sinnlosem Tod in den Ohren und dem Kopf voll gebrochener Knochen.
«Ich werde sterben. Mein Bein ist gebrochen.»
Die Erinnerung an die gepeinigte Stimme hielt sie davon ab, den Fehler zu machen, der ihr leicht zum Verhängnis hätte werden können. Nur nicht aufstehen, nicht aufrecht gehen. Sie wäre wohl schneller vorangekommen, aber wahrscheinlich nicht lange.
Der Boden war sehr uneben. Und nirgendwo gab es etwas, um sich abzustützen. In der absoluten Finsternis gab es nur das Gefühl unter den Händen. Mal war es puderig wie ganz feiner Staub, mal erdig, mal krümelig, meist jedoch steinig, als krieche sie über nackten Fels.
Und überall, selbst im feinen Staub, lagen scharfkantige Steinchen und Gesteinssplitter. Es schmerzte, die Hände unbedacht aufzusetzen und mit Gewicht zu belasten oder die Knie nachzuziehen auf ein Stück, das sie zuvor nicht akribisch entschärft hatte. Die Erfahrung machte sie schon nach einer sehr kurzen Wegstrecke. Und es war nur das Bedürfnis, sich den zusätzlichen Schmerz zu ersparen, das sie veranlasste, ihren Weg zu markieren. Wie Hänsel und Gretel, die im finstren Walde Brotkrumen ausstreuten, um wieder zurückzufinden zum Elternhaus.
13. Januar 2010 – Mittwochnachmittag
Beim Mittagessen erklärte Leonard, dass er heute zusammen mit einem Freund Mathe, Englisch und
Weitere Kostenlose Bücher