Der Frauenjäger
Geographie machen werde. «Danach fahren wir zum Training.»
«Soll ich euch nicht fahren?», fragte Marlene. Normalerweise gehörte das zu ihren Aufgaben, wenn auch nicht regelmäßig, es hing vom Wetter ab. Deshalb hatte Werner ihr einen Vangekauft, als letztes Jahr ein neues Auto für sie fällig gewesen war. Sie hatte mit einem Cabrio geliebäugelt, aber da passte kein halber Fußballclub rein.
«Nicht nötig, wir nehmen die Räder», sagte Leonard.
«Aber es ist eiskalt und spiegelglatt», sagte Marlene.
Er grinste unbekümmert: «Und knubbelig, wenn der Matsch in den Fahrspuren wieder gefriert. Das macht echt Spaß.»
«Pass bloß gut auf», bat Marlene und fragte sich, ob Ullas Sohn am Sonntag genauso gedacht hatte.
Leonard verdrehte die Augen und antwortete, als könne er Gedanken lesen: «Ich heiße nicht Kranich, Mama. Ich bilde mir nicht ein, dass ich fliegen kann.»
Johanna wollte ebenfalls weg, musste mit Kirsten Barlow und Julia Jäger etwas Wichtiges erledigen. Um was es ging, erklärte sie nicht. Marlene fragte auch nicht nach.
Nachdem die Kinder das Haus wieder verlassen hatten und die Küche erneut aussah wie aus dem Magazin «Schöner Wohnen», hätte Marlene eigentlich nochmal versuchen können, Ulla in der Firma zu erreichen. Sie frischte lieber ihr Make-up auf, zog sich um und fuhr los, um zwei oder drei Paar Sportsocken für Leonard zu besorgen. Durchs Fußballspielen hatte er einen hohen Verschleiß. Und dann sah es nicht so nach Neugier aus.
Es war auch keine Neugier, nur Anteilnahme, gepaart mit ein bisschen Feigheit, ein bisschen Hilflosigkeit und dem Entschluss, Matthias die Art von Hilfe anzubieten, die Ulla garantiert nicht von ihr annehmen würde.
Werner musste nichts davon erfahren. Er fragte nie, was sie mit dem Geld machte, das er ihr für persönliche Bedürfnisse überweisen ließ. Und wenn er sich diesmal ausnahmsweise danach erkundigen sollte: Es war ihr eben ein persönliches Bedürfnis, Ulla zu helfen. Matthias würde ihr Angebot nicht ablehnen, da war sie sicher.
Mit einem Fünferpack Sportsocken – Sonderangebot für sieben Euro fünfundneunzig – schlenderte sie eine halbe Stunde später durch die Herrenabteilung und hielt Ausschau nach dem Mann ihrer besten Freundin. Als sie schließlich nach ihm fragte, hörte sie, Herr Kranich sei vor einer Stunde ins Krankenhaus gerufen worden. Es habe Komplikationen gegeben, man hätte seinem Sohn ein Bein amputieren müssen.
«Guter Gott, der arme Junge», sagte Marlene schockiert, obwohl sie nicht mal in dem Moment echtes Bedauern für Thomas empfand. Ulla tat ihr leid, entsetzlich leid. Sie konnte sich nun denken, warum Ulla schon früh am Morgen ins Krankenhaus gefahren war. Und Annette bestätigte es kurz darauf.
Wie immer, wenn sie im Einkaufscenter war, schaute Marlene bei Annette vorbei. Diesmal allerdings nicht, um Zeit totzuschlagen, zu plaudern und zu kaufen, was Annette ihr empfahl. Sie wollte nur reden über den neuen Berg an Problemen, der sich vor Ulla auftürmte.
Außen an der Glasfront der Bücherstube klebten drei identisch aussehende Seiten im DIN-A 4-Format . Sie sah es im Vorbeigehen, blieb aber nicht stehen, um zu lesen. Im Verkaufsraum hielten sich zwei Kunden auf, als Marlene das Glockenspiel am Eingang zum Klingeln brachte. In der Kinderecke zeigte eine junge Frau einem kleinen Mädchen verschiedene Bilderbücher. Bei den Reiseführern blätterte ein älterer Mann in der
Türkei
.
Annette stand an der Kasse, behielt ihre Kundschaft im Auge und telefonierte wegen einem Stehpult und drei Dutzend Klappstühlen, die ihr am späten Nachmittag jemand bringen sollte.
«Aber nicht vor halb sechs. Kann ich mich darauf verlassen?», hörte Marlene sie sagen.
Als Annette das Gespräch beendete, nahm die junge Frau das kleine Mädchen auf den Arm und ging, ohne etwas zu kaufen.«Das macht die jedes Mal», presste Annette in Marlenes Richtung zwischen den Zähnen hervor und steuerte auf den älteren Mann zu, der immer noch in der
Türkei
blätterte.
«Den Reiseführer kann ich Ihnen empfehlen», begann Annette ein Verkaufsgespräch. «Er wird Sie zu vielen sehenswerten Fleckchen abseits vom Touristenrummel führen.»
«Wissen Sie, dass man dort das Klopapier nach Gebrauch in einen Eimer werfen muss?», fragte der Mann und fixierte Annette mit einem durchdringenden Blick. Ehe sie ihm antworten konnte, sprach er weiter: «Unser Sohn hat’s erzählt, er war in Antalya.» Nach einem letzten Blick auf das
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