Der Frauenjäger
fünf Sekunden, dieses Plätschern, Gluckern und Gurgeln. Wie Wasser, das mit einer gewissen Geschwindigkeit über große Steine floss. Sie hatte unweigerlich das heimische Bachbett vor dem geistigen Auge.
Wenn sie im Sommer am Spätnachmittag mit einem Buch auf der Terrasse saß und es rundum still war, hörte sie das Wasser immer. Wenn sie nachts aufwachte, drang das Plätschern oft durchs geöffnete Fenster. Früher hatte es sie manchmal wieder in den Schlaf gemurmelt.
Auf Höhe ihres Gartens fiel das Bachbett um etliche Zentimeter ab, oberhalb und unterhalb dieser Bruchkante lagen viele Steine, die den Effekt einer Miniaturstromschnelle erzeugten. Und hinter dem Nachbargrundstück ragte ein Entwässerungsrohr aus der Böschung. Nach heftigen Regenfällen hätte man meinen können, an einem Wasserfall zu wohnen.
Wenn es längere Zeit nicht geregnet hatte, strömte das Wasser nur zwanzig Schritte weiter beinahe geräuschlos durch eine sauber ausgestochene Erdrinne. Dort hörte man auch bei hohem Wasserstand allenfalls ein schwaches Rauschen, wenn man unmittelbar an der Böschung stand. Werner hatte sie bei einemSpaziergang mal auf den Unterschied hingewiesen, den ein paar Steine und eine Bruchkante im Wasser ausmachten. Darauf hatte sie vorher nie geachtet.
Nur zwanzig Schritte zwischen Plätschern und Stille! Auch wenn sie kaum schneller als eine Schnecke vorankam, musste sie inzwischen eine längere Strecke zurückgelegt haben. Es musste sich folglich um einen größeren Wasserlauf als einen Bach handeln. Sonst hätte sie ihr Ziel entweder längst erreicht oder nichts mehr davon hören dürfen. Aber die Wassergeräusche kamen ihr jetzt sogar etwas lauter und differenzierter vor als bei der Kuhle – bis die Musik aufs Neue begann und alles wieder übertönte.
Im Gegensatz zu den Lauten, die sie magisch anzogen, erschien ihr das Lied mittlerweile erheblich leiser als unmittelbar nach dem Aufwachen. Wahrscheinlich war sie inzwischen ein gutes Stück von der Musikquelle entfernt, die sie in der Nähe der steinernen Kuhle vermutete.
Monas Tagebuch
13. Januar 2010 – Mittwochnachmittag
Seit Wochen lag ein unscheinbares Taschenbuch im Stapel auf dem Beistelltisch neben dem Zweisitzer im Wohnzimmer, wo Marlene immer alles hinlegte, was sie bei Annette kaufte. Zuerst hatte das schmale Bändchen auf oder unter der Schmidt-Biographie und einem Urlaubsbericht gelegen, der laut Annette witzig sein sollte. Später unter einem Wälzer von Val McDermid, einem Roman von Ken Follet und vier oder fünf Taschenbuchkrimis von relativ unbekannten Autoren, die allesamt vielversprechende, um nicht zu sagen reißerische Klappentexte hatten.
Gelesen hatte Marlene längst nicht alle von der ersten bis zur letzten Zeile. Manchmal legte sie ein Buch schon nach zehn Seiten weg, manchmal erst nach fünfzig, weil es langweilig war oder albern, uninteressant oder zu scheußlich in der detaillierten Beschreibung von Grausamkeiten und Gewalt. Manchmal vergaß sie auch eins im Stapel.
So wäre es vermutlich auch
Monas Tagebuch
ergangen, hätte nicht Ullas Sohn am Sonntagabend Ullas Auto zu Schrott gefahren und Marlene an dem verhängnisvollen Mittwoch nicht das Bedürfnis verspürt, dem Mann ihrer besten Freundin finanzielle Hilfe anzubieten, was unweigerlich zu einem Besuch der Bücherstube hatte führen müssen. Aber vielleicht hätte Annette anderenfalls doch noch im Laufe des Nachmittags bei Marlene angerufen.
Nach ihrem Tritt ins Fettnäpfchen mit der Bemerkung über die drei Chinesen war Annette sehr um Marlenes Wohlwollen bemüht. Mit Wink auf die DIN-A 4-Seiten an der Glasfront der Bücherstube erklärte sie: «Die hat Christoph mir gestern Abend noch schnell am Computer gemacht. Sind gut geworden, oder? Dreißig haben wir ausgedruckt. Die Mädchen wollten sie nach der Schule in der Stadt verteilen. Ich hänge seit dem Morgen am Telefon und rufe Kunden an. So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt.»
«Worum geht es denn?», fragte Marlene ahnungslos und verärgert.
«Na, hör mal», sagte Annette beinahe entrüstet. «Soll ich die Welt anhalten, weil Ullas Tölpel ein Bein verloren hat? Er ist doch selber schuld! Gestern Abend wusste ich davon noch nichts. Und das Buch hat es verdient, dass man etwas dafür tut. Ich war noch nicht auf der letzten Seite, da habe ich schon hinter der Merz hertelefoniert. Ich hätte ihr höchstens wieder absagen können, nachdem Matthias heute Mittag hier war. Aber da hatte ich schon
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