Der Frauenjäger
davon abhalten ließ, ihnen einen spannungsreichen Abend zu bescheren. Dann gab sie das Wort an Heidrun Merz.
Doch ehe die es ergreifen konnte, kam noch ein Mann herein. Marlene schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig. Bekleidet war er mit einer dunkelblauen Wetterjacke, einem dicken Pullover und einer Cargohose, in deren ausgebeulten Taschen er offenbar seine Habseligkeiten mit sich herumtrug. Vor seiner Brust hing ein schwerer Fotoapparat.
Annette stand noch bei Heidrun Merz am Pult und lächelte dem Neuankömmling erwartungsvoll entgegen. Der murmelte eine Entschuldigung für sein spätes Erscheinen und setzte sich auf den äußeren Stuhl rechts neben Marlene. Heidrun Merz war davon sichtlich irritiert. Nach ein paar Sekunden bedankte sie sich bei Annette für die Einführung und wandte sich an ihr spärliches Publikum.
«Wie einige von Ihnen vielleicht schon wissen», begann sie, «verschwand meine Schwester Mona im Juli vor dreieinhalb Jahren. Sie verließ ihre Wohnung um die Mittagszeit. Ein Nachbar sah sie in der Tiefgarage in ihren Wagen steigen und davonfahren. Gepäck hatte sie nicht bei sich. Ich wusste zu dem Zeitpunkt, dass Mona sich drei Monate zuvor mit einem Mann eingelassen hatte, der sie gleichermaßen faszinierte wie abstieß. Mein Schwager hatte davon keine Ahnung, bis ich es ihm dann sagte. Obwohl sie nichts mitgenommen und auch mir gegenüber keine derartige Erklärung abgegeben hatte, glaubten wir beide in den ersten Wochen nach Monas Verschwinden, wirhätten es mit einer alltäglichen Geschichte zu tun. Eine gelangweilte, frustrierte Frau bricht aus ihrer Ehe aus, um ein Abenteuer zu erleben oder mit einem anderen Mann irgendwo neu zu beginnen. Doch je mehr Zeit verging, ohne dass zumindest ich ein Lebenszeichen von Mona erhielt, umso größer wurden unsere Sorgen.»
Heidrun Merz sprach nun mit einer angenehm dunklen Stimme, von der ein fast magischer Sog ausging. Marlene hätte ihr stundenlang zuhören können. Der Mann neben ihr lauschte ebenfalls aufmerksam, zog Notizblock und Stift aus einer Tasche am linken Oberschenkel und begann mysteriöse Zeichen zu kritzeln. Es sah aus wie Stenographie, nur hätte Marlene keinem seiner Zeichen eine Bedeutung zuordnen können. Dabei war sie in Steno während ihrer Ausbildung wirklich gut gewesen. Aber wie lange war das her?
Für ein paar Sekunden verursachte ihr das Wissen um frühere Fähigkeiten, die mit der Zeit verloren gegangen waren, die nur zu gut bekannte und gefürchtete Beklemmung in der Brust. Dann versank die unterschwellige Trauer im ungeklärten Schicksal einer ihr völlig Unbekannten und in der Faszination eines Mysteriums.
Die Atmosphäre in der Bücherstube wurde dichter, die Spannung förmlich greifbar. Die Mädchen saßen wie hypnotisiert auf ihren Plätzen. Annette stand wie zur Salzsäule erstarrt vor Tapedeck und Verstärker. Aus der letzten Stuhlreihe war kein Mucks zu hören. Nur Karola verrenkte sich den Hals, um Marlene über vier Köpfe hinweg zuzuflüstern: «Ich muss sie unbedingt in meine Sendung holen. Was hältst du davon, ist das nicht furchtbar?»
Annettes Witzbold hätte jetzt garantiert gefragt, ob Karola die Autorin oder ihre Sendung furchtbar fand. Und damit hätte Christoph zweifellos die ganze Spannung verdorben. Heidrun Merz war mit ihrer Einführung bei dem luftgepolsterten Umschlagaus Madrid angelangt, den ihrer Meinung nach keinesfalls Mona selbst abgeschickt haben konnte. Der Inhalt sei dürftig gewesen, sagte sie – stand ja auch im Buch –, kein Begleitbrief, nur das Tonband.
«Es handelte sich um eine Kassette von sechzig Minuten Spieldauer, wie sie vor Jahren in Gebrauch waren. Es waren nur knapp fünf Minuten besprochen mit den im Buch zitierten Sätzen. An der Relation zwischen Text und Zeit mögen Sie ermessen, wie viel Mühe meiner Schwester das Sprechen bereitet haben muss. Sie können sich gleich einen persönlichen Eindruck verschaffen.»
Marlene hatte das Gefühl, dass hinter ihr alle die Luft anhielten.
«Aber Mona hätte sich auch in einer äußerst prekären Lage und unter größten Schwierigkeiten kaum davon abhalten lassen, einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort zu geben», sagte Heidrun Merz noch. «Wir vermuten, dass meinem Schwager nicht das von Mona besprochene Originalband zugeschickt wurde, sondern nur ein Auszug, wahrscheinlich der Schluss einer längeren Erklärung.»
Die Kassette – wie sich später herausstellte, war es die Kopie einer Kopie – war bereits ins
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