Der Frauenjäger
kurz mit ihm, nickte zufrieden und dirigierte ihre Töchter mit einem energischen Wink in die erste Stuhlreihe. Dann strahlte sie Heidrun Merz an und streckte beim Näherkommen beide Hände zur Begrüßung aus. «Welch eine Freude», sagte sie überschwänglich.
Karola war voller Lob und Bewunderung. Vor allem bewunderte sie den Mut, den Heidrun Merz mit der Publikation undVeranstaltungen wie dieser bewies. Den Blick auf den Wachmann gerichtet, erklärte sie, sie habe ihren Zuhörerinnen die Lektüre mehrfach dringend ans Herz gelegt, nicht erst am heutigen Vormittag, seit Erscheinen des Buches immer wieder. Und regelmäßig habe sie danach merkwürdige, um nicht zu sagen: bedrohliche Anrufe erhalten.
«Heute Mittag erst wieder», behauptete Karola. «Ich wollte gerade das Studio verlassen, da rief meine Sekretärin mich zurück.»
Karola hatte keine Sekretärin, sie kommandierte stattdessen eine siebenköpfige Redaktion, protzte jedenfalls immer damit. Und letzten Samstag bei Ullas Geburtstagsfeier war es nur ein Perverser gewesen, der zweimal bei Karola zu Hause angerufen hatte. Aber dass sie sich aufführte, als stehe ein Attentat zu befürchten, war normal. Karola brauchte Katastrophen wie andere Leute die Luft zum Atmen. Sie schaffte es mit Leichtigkeit, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Wenn die Mücken fehlten, produzierte sie auch das Summen.
Marlene hätte sich nicht gewundert, wenn sie nach den bedrohlichen Anrufen im Sender noch eine Verfolgungsjagd auf einsamer Landstraße erfunden hätte. Karola widmete sich stattdessen dem Buch, nannte es eine brisante Lektüre und ein absolutes Muss für jede Frau in vergleichbarer Situation.
Obwohl auch Annette darauf hingewiesen hatte, dass die Autorin Courage für die Lesung brauche, konnte Marlene sich nicht vorstellen, was gefährlich daran sein sollte, ein paar Seiten aus dem belanglosen Leben einer depressiven und seit drei Jahren verschwundenen Frau vorzulesen.
Karola belegte Heidrun Merz völlig mit Beschlag, wollte wissen, ob es neue Erkenntnisse gäbe, ließ beiläufig eigene Erfahrungen mit den polizeilichen Aktivitäten in Vermisstenfällen einfließen und verschaffte Annette damit die Atempause, ein letztes Mal zu prüfen, ob Tapedeck, Verstärker und Lautsprechereinsatzbereit waren. Das Mikro brauchten sie dann doch nicht.
Johanna und Kirsten nahmen in der ersten Reihe bei Julia und Stefanie Platz und begannen eine gedämpfte Unterhaltung mit Karolas Jüngster. Stefanie wickelte sichtlich gelangweilt einen Kaugummistreifen aus dem Papier und genoss es, für Aufruhr in der letzten Reihe zu sorgen. Zwei Frauen tuschelten miteinander und ließen dabei den Blick nicht von Karolas kleinwüchsiger Ältesten. Wahrscheinlich vertraten sie die Meinung,
Kinder
gehörten um diese Zeit vor den Fernseher, aber nicht in eine Buchhandlung, in der eine brisante Lektüre zu Gehör gebracht wurde.
Die Blonde, die Marlene beim Transport der Sektgläser geholfen hatte, erschien an der Tür, winkte Marlene lächelnd zu, als seien sie gute Bekannte, schaute sich all die leeren Stühle an und entschied sich für den äußeren linken in der mittleren Reihe. Marlene überlegte, ob sie sich ebenfalls in die zweite Reihe setzen sollte, aber mehr in die Mitte, damit es dort nicht so leer aussah.
Eine Frau mit stark ergrautem Bubikopf kam von hinten nach vorne und erkundigte sich schüchtern, ob Heidrun Merz im Anschluss an die Lesung auch Bücher signiere. Sie wolle ein Exemplar an eine Bekannte verschenken, die sich kürzlich auf eine Affäre eingelassen habe und seitdem völlig verändert sei.
Heidrun Merz nickte, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und einen zu Annette. Dann ging sie zum Stehpult, zog ein Buch aus ihrer Umhängetasche und trank einen Schluck Wasser. Annette verstand das als Startsignal und winkte dem Wachmann zu, er solle die Tür schließen.
Karola nahm neben ihrer Ältesten Platz und deponierte den Webpelz auf dem freien Stuhl zu ihrer Linken. Johanna winkte eifrig, also setzte Marlene sich rechts neben ihre Tochter auf den vorletzten Stuhl der ersten Reihe. So hatten sie und Karoladie Mädchen zwischen sich wie Glucken, die ihre Küken schützten.
Annette begrüßte das Publikum und besonders herzlich die Autorin, genau genommen die Herausgeberin des Buchs. Der Text stamme doch überwiegend von Mona Thalmann, erklärte Annette und brachte zu guter Letzt ihre Freude zum Ausdruck, dass Frau Merz sich allen Widrigkeiten zum Trotz nicht
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