Der Frauenjäger
ihm, dass du gerne ein paar Tage für dich ganz allein hättest.»
Ihr graute davor, tagelang allein zu sein. Aber dienstags hatte sie ihrer Tochter erlaubt, etwas Kleidung, die Luftmatratze und den Schlafsack zu packen und sich ebenfalls bei Barlows einzuquartieren – bis Freitag. «Du bist wieder hier, ehe dein Papa am Freitag zurückkommt. Wenn du auch nur zwei Minuten später … Haben wir uns verstanden?» Genau das hatte sie gesagt.
Warum? Nur damit Johanna nicht länger schmollte und sich nicht aus dem Kreis ihrer Freundinnen ausgeschlossen fühlte? Das vielleicht auch, aber irgendwo in ihrem Hinterkopf sprach Ulla von einer sturmfreien Bude.
Und ihr wurde klar: Wenn heute nicht Samstag war … und das konnte einfach nicht sein, kein Mensch, der noch einigermaßen bei Verstand war, vergaß volle drei Tage, fast vier, vom Dienstag war ihr ja auch nur die kurze Szene mit Johanna im Gedächtnis. Wenn also nicht schon Samstag war, hielt Werner sich noch in Straßburg auf und Leonard in Tirol, oder der saß jetzt im Bus und war auf der Heimfahrt.
Dass Johanna sich vor der gesetzten Frist zu Hause blicken ließ und bei der Gelegenheit ihre Mutter vermisste, stand kaum zu erwarten. Wenn doch, würde sie nichts unternehmen. Könnte ja sein, dass Mama zum Einkaufscenter oder sonst wohin gefahren war. Johanna würde sich hüten, nochmal so einen Wirbel zu machen wie letzte Woche Donnerstag.
Aber Werner rief bestimmt an, hatte das wahrscheinlich schon getan und sich gewundert, weil niemand ans Telefon gegangen war. Vermutlich hatte Werner längst alle Welt aufgescheucht und alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie zu finden. Er würde garantiert nicht so lange warten wie Karola vor dreieinhalb Jahren, ehe er die Polizei einschaltete.
Nur würde die Polizei nicht sofort eine Suche starten, wenn es keine Anzeichen für ein Verbrechen gab. Weil ein erwachsener Mensch das Recht hatte, sich aufzuhalten, wo er – oder sie – sich eben aufhalten wollte.
Aber verdammt nochmal! Es kroch doch niemand freiwillig in völliger Dunkelheit über spitze Steine, ruinierte sich beide Knie, eine teure Hose und ein Paar Stiefeletten und kam dabei um vor Durst!
Für ein paar Sekunden machte die Vorstellung polizeilicher Untätigkeit sie so zornig, dass sie den schwindligen, pochenden Kopf ignorierte, sich halbwegs energisch aus der Hocke stemmte und ihre Hosen eine nach der anderen wieder hochzog. Ein langärmeliges T-Shirt hatte sie auch an, was sie zuerst verwunderte und dann den nächsten Stromschlag durch Kopf und Körper jagte.
Es schien, als hätte sie vorgehabt, sich längere Zeit im Freien aufzuhalten. Dann war wohl gestern doch schon Freitag gewesen. Eine andere Erklärung, als dass sie Leonard am Spätnachmittag mit Gepäck wieder bei der Schule abgeholt hatte, fand sie nicht.
Bei der langen Strecke konnte niemand vorhersagen, um welche Zeit genau die Busse eintrafen. Wenn es hieß, zwischen fünf und sechs, konnte es auch sieben oder acht werden.
Das hatte sie schon mal erlebt, als Johanna mit ihrer Klasse in Italien gewesen war. Da hatten sich manche Eltern die Beine in den Bauch gestanden, andere in ihren Autos gewartet. Und alle hatten sie auf ihren Nachwuchs geschimpft, der nicht aufdie Idee kam, Gebrauch vom Handy zu machen und durchzugeben: «Wir sind jetzt kurz vor Köln.» Oder: «Wir stehen leider im Stau.»
Vermutlich hatte sie gedacht: Warum sollte das bei Leonards Klasse anders sein? Wieso erinnerte sie sich nicht daran? Und was war mit der sturmfreien Bude?
Egal! Sie wollte sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen, ob, wann und in welchem Zustand sie ihren Sohn beim Gymnasium in Empfang genommen hatte, wann Werner aus Straßburg zurückgekommen und was danach geschehen war. Sie hielt es für entschieden sinnvoller, ihre Jackentaschen zu kontrollieren, um festzustellen, was sie da eben mit den Fingern gestreift hatte.
13. Januar 2010 – Mittwochabend
In den wenigen Minuten, in denen extrem lautes Bandrauschen, gepaart mit Geräuschen, die sich wie das Tosen eines Wasserfalls anhörten, und die Silben der letzten Botschaft
Annettes Bücherstube
erfüllten, wusste Marlene mit absoluter Sicherheit, dass sie zumindest akustisch Zeugin von Mona Thalmanns Todeskampf wurde und dass diese Frau bei aller Todessehnsucht nicht wirklich hatte sterben wollen. Unter der beherrschten Stimme der Autorin verlor sich das Absolute jedoch bald wieder.
Im Anschluss an die kurze Bandpassage erklärte Heidrun Merz:
Weitere Kostenlose Bücher